Die seelischen Erkrankungen bei Kindern nehmen zu. Foto: © anaumenko – stock-adobe.com

Im Kreis Calw nimmt die Zahl der Kinder mit seelischen Behinderungen drastisch zu. Allein binnen 24 Monaten haben sich die Fallzahlen verdoppelt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Kreis Calw - Im Jahr 2018 registrierte die Abteilung Jugendhilfe im Calwer Landratsamt noch 48 Fälle von seelischer Behinderung bei Kindern ab vier und Jugendlichen bis 20 Jahren. Die erforderlichen Integrationshilfen kosteten den Landkreis 470.000 Euro im Jahr. Zwei Jahre später hatten sich Fallzahlen und Betreuungskosten nahezu verdoppelt.

Für die 95 Kinder wurden 970.000 Euro für Integrationshilfen und Schulbegleitung ausgegeben. Hintergrund: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen können eine so genannte Schulbegleitung beantragen, die sie beim Schulbesuch unterstützt. Für viele Kinder mit so genanntem sonderpädagogischen Förderbedarf ermöglicht erst eine solche Individualbegleitung den Besuch einer allgemeinen Schule und somit einen Schritt in Richtung Inklusion.

2700 Kinder im Kreis Calw depressiv veranlagt

Medizinische Studien gehen indes davon aus, dass weit mehr Kinder seelisch erkrankt als tatsächlich offiziell in den Ämtern gemeldet sind. Hochgerechnet auf den Kreis Calw ergibt eine solche Prävalenz ganz andere, alarmierende Zahlen: Von den 27.789 Minderjährigen im Kreis leiden demnach hochgerechnet mehr als 400 an Autismus und 1300 an ADHS, also am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Bleibt ADHS unbehandelt, kann das ernsthafte Folgen für das Kind und sein gesamtes familiäres Umfeld nach sich ziehen, wie zum Beispiel Schulversagen, Familienprobleme oder eine erhöhte Suchtgefahr.

Hochgerechnet wären zudem 2700 Kinder im Kreis Calw depressiv veranlagt.

Auch Corona hat nach Einschätzung der Verantwortlichen zu den gestiegenen Fallzahlen beigetragen.

"Unterdiagnostik. Weil sich kein Mensch drum kümmert."

Die Pandemie und die damit verbundenen gesellschaftlichen Einschränkungen hätten sich gerade auch in Familien mit prekären Lebenslagen gravierend ausgewirkt, was die Gesamtentwicklung der Kinder, ihre psychische Gesundheit und ihre sozialen Kompetenzen anbelangt.

Warum im Kreis Calw aber die auf den ersten Blick relativ hohe Anzahl der notwendigen Integrationshilfen weit unter den statistisch zu erwartenden Zahlen liegt – dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Stephanie Schrödelsecker von der Abteilung Jugendhilfe in der Kreisverwaltung glaubt, dass die gut funktionierenden familiären Strukturen und sozialen Netzwerke im Kreis kompensieren würden, was anderswo Fachleute beschäftige: "Bei den hohen Fallzahlen, was eigentlich möglich ist, liegen wir noch gut", erklärte sie jüngst im Jugendhilfeausschuss. CDU-Kreisrat Bernard Plappert, selbst Mediziner, sieht hier vielmehr eine "Unterdiagnostik. Weil sich kein Mensch drum kümmert."

Problem des Bildungssystems bei Jugendhilfe abgelegt

SPD-Kreisratskollege Lothar Kante kommentierte die aus seiner Sicht erdrückenden Zahlen so: "Das zeigt auf, dass einiges massiv falsch läuft." Aus seiner Sicht werde hier ein Problem des Bildungssystems bei der Jugendhilfe abgelegt. Verbunden mit der rhetorischen Frage: "Wo soll das hinführen?"

Angesichts der aktuellen Erkenntnis, dass vor allem Kinder im Grundschulalter nach dem Lockdown erhebliche Defizite im Spracherwerb, in der Lernentwicklung und im sozialen Miteinander zeigen, forderte Kante einen stärkeren Ausbau der Schulsozialarbeiter an den Grundschulen.