Bisher hat der Bundespräsident die in ihn gesetzten Erwartungen noch nicht erfüllt. 

Berlin - Staatsbankett für den Emir von Katar. Solche Gäste hat man, wenn man Bundespräsident ist. Eine Ansprache wird gehalten, das Glas erhoben - und dann Essen für Deutschland. Christian Wulff ist da auf sicherem Terrain. Die Tischrede ist von kundigen Diplomaten auf Pannenträchtigkeit tiefengeprüft worden. Da kann nichts passieren. Wulff lobt also die Reformen Katars, staunt anerkennend über die atemberaubende Skyline von Doha und weiß eine arabische Redensart anzubringen, die er auf seinen Reisen an den Golf kennen gelernt habe: "In der Wüste findet nur der Kluge seinen Weg."

Wieso eigentlich? In der Wüste sind doch alle Hindernisse Stunden voraus zu sehen und das Ziel des Wegs ist klar erkennbar. Aber wer erkennt schon all die Fallstricke und Schlingen, die falschen Fährten und Sackgassen im politischen Dickicht eines lärmenden Hauptstadtbetriebes? Da kann man schon mal die Orientierung verlieren. Christian Wulff, so scheint es, ist im Kreis gegangen. Und nach keinen 100 Tagen im Amt ist er da angekommen, wo sein Vorgänger Horst Köhler aufgehört hatte. Der hatte mangelnden Respekt vor dem Amt beklagt und trat die Flucht ins Private an. Heute weiß Wulff, wie Köhler litt. "Das lässt jeden Respekt für das Amt vermissen!", ließ das Staatsoberhaupt über seinen Sprecher verbreiten. Das Grollen aus dem Schloss richtete sich gegen Grünen-Fraktionschefin Renate Künast, die Wulffs Schweigen in der übersteuernden Integrationsdebatte auf die knappe Formel brachte. "Wo ist Wulff?"

Vielleicht ist das alles ein Missverständnis. Das Wulff-Lager streut jedenfalls diese Sicht der Dinge gerne, weil sie ein gutes Licht auf den Neuen in Bellevue wirft. Die Version geht so: Christian Wulff, der nette Niedersachse, habe doch angekündigt, dass er sich Zeit nehmen wolle, um seine Themen zu setzen. Und da sei doch ein sympathischer Zug, dass da jemand kommt, der nicht gleich zu allem eine Patent-Floskel absondert, sondern nachdenkt. So falsch ist das nicht. In einem Interview mit unserer Zeitung hatte Wulff wenige Tage vor seiner Wahl "auf die besonderen Umstände dieser Kandidatur" hingewiesen - und auf den "erheblichen Zeitdruck" für den Kandidaten. Wulff damals: "Die Bürger haben Verständnis dafür, dass ich mir Zeit zum Nachdenken nehme."

Der Sarrazin-Effekt


Dann kam Thilo Sarrazin und machte einen dicken Strich durch alle Planspiele. Eigentlich zwangen die Thesen des Bundesbank-Vorstands und SPD-Politikers zur Stellungnahme. Und war Wulff nicht prädestiniert dazu? Er hatte in Niedersachsen die erste muslimische Ministerin in sein Kabinett geholt und schon in seiner Antrittsrede "unsere bunte Republik Deutschland" gepriesen. Und übrigens hatte er im Interview mit unserer Zeitung auch schon von einer "Bringschuld der Migranten" gesprochen und eine "tabufreie Debatte um Fehlentwicklungen, auch um fundamentalistischen Tendenzen" angemahnt. Was also lag näher, nun, da der Startschuss laut und deutlich gegeben wurde, diese tabufreie Debatte anzuführen?

Wulff, der Entschleuniger, sah sich plötzlich getrieben. Mitten hineingeworfen in ein Politikum erster Ordnung. Die Kanzlerin hatte schon den Bannstrahl in Richtung Sarrazin ausgesandt, und in rasender Geschwindigkeit lief die medial von Sarrazin angefeuerte Debatte heiß. Wo sollte sich Wulff einklinken? Wiederholte er die These von der "Bringschuld", würde er sich scheinbar hinter Sarrazin und gegen die Kanzlerin stellen. Widerspräche er laut, was ihm wohl auf der Zunge lag, hätte er sich kaum im Amt in offenen Gegensatz zu vielen Bürgern gebracht. Dabei träumte er doch gerade von der Rolle als Bürgerpräsident. Herauskam die schlimmste Variante: In einer schmallipigen Auskunft schob er der Bundesbank den Schwarzen Peter zu: "Ich glaube, dass der Vorstand der Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet." Eine unverblümte Aufforderung, Sarrazin zu entlassen. Dabei war Wulff derjenige, der die Entlassung letztendlich genehmigen musste.

Von da an lief alles schief. Erst erbat sich Wulff eine Stellungnahme der Bundesregierung, was als Akt offen eingestandener Hilflosigkeit wirken musste. Dann schaltete er sich selbst in die Verhandlungen um einen eleganten Sarrazin-Abschied ein. Die Umstände dieses Gemauschels mit Anwälten in den Hinterzimmern der Macht sind bis heute unklar. Fest steht, dass sich dieser Ausflug ins politische Klein-Klein auch nicht gerade mit dem Respekt vor dem Amt des Staatsoberhauptes vertragen hat.

Erinnerung an Gauck


Wulff ist bislang Landespolitiker gewesen. Er ist neu im Amt. Und fraglos hat er Recht mit dem Hinweis, dass die Kandidatur für alle, auch für ihn, überraschend kam. Ist es da nicht glasklar, dass er Zeit braucht? Doch, doch. Aber es sind nicht die Medien, die Druck auf Wulff ausüben. Der kommt aus der Politik. Da wird es interessant. Dass die Opposition attackiert, ist so verwunderlich nicht. Aber auch im bürgerlichen Lager ist die Verstimmung gewaltig. So offen sagt man das meist nur im Hintergrund. Aber man muss nur die Indizien aneinander reihen. Eiskalt bis ans Herz nahm Regierunsgsprecher Steffen Seibert zum Engagement Wulffs in Sachen Sarrazin-Abschied Stellung: Das Verfahren werde "durch den Bundespräsidenten verantwortet". Offen schimpft der bayerische Innenminister Joachim Hermann (CSU), es sei "nicht hilfreich" gewesen, "wie einige Leute aus unserem Lager in der Sarrazin-Debatte agiert haben". Wer genauer wissen will, wie gedacht wird, sollte Michael Spreng zuhören, der Mann, der als Berater Edmund Stoibers fast erfolgreiche Kanzlerkandidatur betreute. "Mit jedem Tag von Wulffs bisheriger Amtszeit wird man schmerzlich daran erinnert, dass der Bessere, Joachim Gauck, die Präsidentenwahl verloren hat", schreibt er in seinem Blog.

Wulff leidet, und der Druck steigt. In Hannover ist längst ein lästiger Nebenkriegsschauplatz eröffnet. Dort hat die Staatswanwaltschaft die CDU-Zentrale durchsucht. Es gibt den Verdacht, dass die Wolfsburger Stadtwerke in den Jahren 2002 und 2003 den CDU-Landtagswahlkampf von Wulff mitfinanziert habe. Lästig für Wulff, denn aus Schloss Bellevue heraus bleibt ihm nur die Rolle des Beobachters der Affäre.

Er hat sich selbst die Messlatte aufgelegt. Am Tag der Einheit. will er eine große Rede halten. Die Rede, auf die jeder seit seinem Amtsantritt wartet. Da will er so richtig grundsätzlich werden: Einheit, Integration, Zuwanderung - alles soll auf den Tisch. Durchdacht, verständlich wegweisend. Man kann schon an kleineren Aufgaben scheitern. Und vielleicht ist es wieder so eine lächerlich überhöhte Erwartungshaltung - als würde eine gute Rede über den Erfolg einer Amtszeit entscheiden. Obwohl: Bei Richard von Weizsäcker war es diese eine Rede, die alles entschied. Man wird den Eindruck nicht los, dass der eine oder andere darauf wartet, dass Wulff die Erwartungen nicht erfüllt. Und dann? Michael Spreng hat die Antwort schon parat. "Dann muss man ihn behalten, sich ihn schönreden, ihn erdulden oder ignorieren." So einfach. So böse. Wulff ist gewarnt. Nur der Kluge findet seinen Weg, weiß der Emir.