Glück gehabt: Mitte Juni sind 1,2 Millionen Kubikmeter Gesteinsmasse ins Tal gerutscht und kamen nur wenige Meter vor dem alten Schulhaus von Brienz zum Stillstand. Foto: Steffen Romets/h

Nach einem Felssturz beim Schweizer Bergdorf Brienz dürfen die Bewohner wohl bald in ihre Häuser zurückkehren. Doch es drohen bereits neue Gefahren.

Etliche Wiesen sind gemäht, das erste Heu eingeholt. Ein paar Vögel zwitschern, ansonsten ist Stille. Nur zaghaft kehrt Leben zurück in das seit sieben Wochen menschenleere Dorf Brienz im schweizerischen Kanton Graubünden.

Gut einen Monat lang waren die Kameras auf den Berg oberhalb des auf 1100 Metern zwischen Lenzerheide und Davos gelegenen Dorfs im Albulatal gerichtet, seit die 84 Bewohner am 12. Mai ihr Häuser verlassen mussten. Das Gestein am Hang unterhalb des Piz Linard hatte sich so stark bewegt, dass die Behörden einen größeren Felssturz befürchteten, der das ganze Dorf hätte fortreißen können. In der Nacht zum 16. Juni war es dann so weit: Der lange erwartete Bergrutsch donnerte zu Tal, fast heimlich, kurz vor Mitternacht in einer zwei Tage vor Neumond sehr dunklen Nacht. Kein Livestream fing Bilder ein, nur Tonaufnahmen geben ein Zeugnis davon, wie sich die enormen Gesteinsmassen innerhalb von zehn Minuten in Richtung Dorf geschoben haben.

Kein Haus wurde beschädigt

Die wichtigste Erkenntnis bei Tagesanbruch: Kein Haus wurde beschädigt. Gerade mal 20 Meter vor dem Alten Schulhaus am Dorfeingang ist der gigantische Schuttstrom zum Stehen gekommen – genau dort wo ein Stoppschild vor den Gefahren herabstürzender Steine warnte, das von einem garagengroßen Felsbrocken zermalmt wurde. Gerade so, als hätten sich die 1,2 Millionen Kubikmeter Geröll artig an die Verkehrsregeln gehalten.

„Eindrücklich. Sehr eindrücklich“, sagt der Gemeindepräsident Daniel Albertin, als er Mitte der Woche den riesigen Schuttberg zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht. Jetzt hofft er, dass die Geologen bald grünes Licht geben, dass die Bewohner wieder dauerhaft in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren können. „Wir hoffen, dass wir in Tagen rechnen können und vielleicht schon Ende kommender Woche zurück können.“ Die Chancen dafür stehen gut, seit Wochenbeginn dürfen die Bewohner tagsüber bereits stundenweise zurück in ihre Häuser.

Die Evakuierung stellt eine sehr große Belastung dar

„Die Zeichen stehen sehr positiv“, sagt der Geologe und Leiter des Frühwarndienstes, Stefan Schneider. Zum einen, weil ein relativ großer Teil instabilen Gesteins nun im Tal ist, zum anderen verhalte sich die Ausbruchstelle „sehr ruhig“. Den Bewohnern sei im wahrsten Sinne des Wortes „ein Stein vom Herzen gefallen“, beschreibt Gemeindesprecher Christian Gartmann die Gefühle der Betroffenen. „Die Evakuierung stellt eine sehr große Belastung dar, deshalb wollen wir ihnen schnell wieder Gewissheit geben.“

Doch noch ist es nicht so weit. Zunächst wollen die Geologen vor allem das Wochenende abwarten, für das größere Regenfälle angekündigt sind. „Die wären jetzt sehr willkommen“, sagt Schneider. „Wie verhält sich der Berg bei starkem Niederschlag – das können wir noch nicht einschätzen. Dann würden wir auch sehen, ob die Schuttablagerung stabil bleibt oder weiter in Bewegung ist.“

Insgesamt gibt es vier weitere sehr instabile Bereiche

Wesentlich stärker richten sich die Augen der Experten inzwischen auf das Gebiet oberhalb der Abbruchkante, das sogenannte Plateau. Hier hängen zwei bis vier Millionen Kubikmeter spröder Dolomit als Bedrohung hoch über Brienz. Unmittelbar nach dem Schuttstrom sei das Plateau plötzlich ebenfalls sehr stark in Bewegung geraten. Für kurze Zeit habe sich das Gebiet zehnmal schneller bewegt als bisher. Inzwischen habe es sich zwar beruhigt, sei aber immer noch doppelt so schnell wie vor dem Bergsturz.

Insgesamt gebe es vier weitere sehr instabile Bereiche, erläutert Andreas Huwiler, Geologe beim Kanton Graubünden. „Alles, was man vom Dorf aus sieht, rutscht.“ Neben dem Plateau sei das vor allem die „Rutschung Dorf“, also der 100 Millionen Kubikmeter umfassende und etwa 1,8 Quadratkilometer große Bereich, auf dem das Dorf steht und der sich etwa einen Meter pro Jahr bewegt. Auch dieses Gebiet sei seit dem Schuttstrom stärker in Bewegung.

Dorfbewohner müssen weiter wachsam sein

Große Hoffnungen setzen die Experten nun in einen Entwässerungsstollen, der den Wasserdruck im Gelände und im Berg mindern soll. Schon ein Versuchsstollen habe deutliche Entlastung gebracht. Jetzt soll das Projekt sehr schnell vorangetrieben werden. Am 14. Juli stimmt die Gemeinde über einen 40-Millionen-Franken-Kredit dafür ab.

Immerhin einen Trost hat der Chef des Frühwarndienstes: „Auch beim Plateau gilt, dass wir einen Absturz, der das Dorf gefährden könnte, mit unseren Messgeräten mehrere Tage bis Wochen im Voraus feststellen können“, sagt Schneider. Die Bewohner von Brienz dürften also auch im Falle einer Rückkehr immer einen Koffer gepackt lassen.