Der Radsport wird immer wieder von Unfällen erschüttert, bei der Baskenland-Rundfahrt verletzen sich mehrere Stars schwer. Gehen die Profis zu hohe Risiken ein?
Am Ende einer Woche, die den Radsport hart getroffen hat, gab es doch noch eine gute Nachricht: Keiner der Profis, die so schwer gestürzt sind, schwebt in Lebensgefahr. Was sich zynisch anhört, ist ernst gemeint – denn es hätte sogar noch schlimmer kommen können. Dabei liest sich die Krankenakte des Pelotons auch so schon wie ein Bulletin des Grauens, das besonders viel Aufmerksamkeit weckt, weil es diesmal einige Superstars der Szene erwischt hat.
Los ging es mit Wout van Aert. Er kam beim Halbklassiker Quer durch Flandern zu Fall, brach sich Brust- und Schlüsselbein sowie sieben Rippen. Am Mittwoch erschütterte ein Trainingsunfall von Lennard Kämna auf Teneriffa Bora-hansgrohe. Dem Tour- und Giro-Etappensieger sei von einem abbiegenden Auto die Vorfahrt genommen worden, er habe „zahlreiche Verletzungen, befinde sich aber in stabilem Zustand“, erklärte das deutsche Team. Kämna liege auf der Intensivstation, sei jedoch wach, ansprechbar und könne kommunizieren. Am Donnerstag folgte dann das nächste Horrorszenario.
Simon Geschke: „Froh, dass keiner im Koma liegt“
Während der vierten Etappe der Baskenland-Rundfahrt stürzten in einer Kurve mehrere Profis schwer. Jonas Vingegaard, der zweifache Tour-de-France-Sieger, musste lange in stabiler Seitenlage erstversorgt werden, ehe er blutüberströmt abtransportiert wurde. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte einen Schlüsselbeinbruch, einige Rippenbrüche und eine Lungenquetschung. Auch Remco Evenepoel musste in die Klinik, er zog sich Frakturen des Schlüsselbeins und des Schulterblatts zu. Primoz Roglic, der dritte Anwärter auf den Sieg bei der Tour im Juli, stürzte ebenfalls, kam aber ohne Brüche davon. Schlimmer erwischte es Jay Vine, er erlitt einen Halswirbelbruch und zwei Brüche der Brustwirbelsäule. Am Tag darauf ging es in diesem Stil weiter: Auf der vorletzten Etappe ging unter anderem Mikel Landa zu Boden. Er brach sich das Schlüsselbein und wurde ins Krankenhaus gebracht. Das alles hinterließ Spuren. Nachdem Simon Geschke am Donnerstag die Unfallstelle passiert hatte, war er sichtlich geschockt. „Es ist tragisch“, sagte er, „am Ende müssen wir froh sein, dass keiner im Koma liegt.“
Total aufgewühlt sei das Peloton dennoch, erklärten Insider gegenüber unserer Zeitung. Unfälle wie jener von Kämna seien zwar nicht zu verhindern, doch nach den Stürzen in Flandern und im Baskenland sei die Verantwortung nicht auf Veranstalter, Streckenplaner oder unglückliche Umstände abzuwälzen. Das bestätigen auch einige Fahrer. „Wir müssen die Art und Weise, wie wir gegeneinander antreten, überdenken“, erklärte Pello Bilbao im Ziel der vierten Etappe der Baskenland-Rundfahrt. „Es war keine gefährliche Strecke oder Kurve“, sagte Quinten Hermans, „wir sind zu sehr ans Limit gegangen.“ Ähnlich sah es Simon Geschke: „Es ist diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Viele Stürze sind die Schuld der Fahrer.“
Noch drastischer äußerte sich Nicholas Roche. „Der Radsport hat sich verändert“, meinte der Ex-Profi, der seine Karriere 2021 beendet hat, „es ist nicht normal, dass Fahrer ihr Leben riskieren.“ Oder doch?
Es zählt jede Platzierung
Fakt ist, dass die Bereitschaft, mit vollem Einsatz zu spielen, gestiegen ist – nicht nur, wenn es um Siege geht. Schon immer fuhren die Pedaleure um den nächsten, möglichst besser dotierten Vertrag. Dass der Weltverband für die World-Tour-Teams eine Auf- und Abstiegsregelung installiert hat, verschärft die Lage aber noch einmal. Wie auch die Vermutung, dass manche Sponsoren zusätzliche Prämien an die Erfolge der Rennställe koppeln. „Radrennen sind heutzutage total spektakulär. Es zählt jede Platzierung, weshalb der Druck enorm ist“, sagt Ex-Profi und TV-Experte Jens Voigt, „deshalb werden hohe Risiken eingegangen.“ Doch das ist nicht die einzige Veränderung.
Es gibt nicht nur neue Trainingsmethoden (lange und mehr Aufenthalte in der Höhe) sowie verbesserte Ernährungspläne, auch das stetig optimierte Material trägt dazu bei, dass das Tempo immer höher wird – vor allem auf Abfahrten. Dazu kommt, dass Stars wie Jonas Vingegaard oder Primoz Roglic nur wenige Rennen bestreiten, diese aber unbedingt gewinnen wollen. „Diese Jungs absolvieren pro Jahr rund 40 Renntage weniger als ich zu meiner Zeit“, erklärt Jens Voigt, „sie kommen zwar super trainiert zu den Rundfahrten, haben sich aber lange nicht in einem großen Feld bewegt.“ Zudem kennen die Sportlichen Leiter dank moderner Technik mittlerweile jedes Streckendetail, instruieren ihre Fahrer entsprechend. „Jeder weiß, in welcher Kurve er vorne sein muss“, sagt Ex-Profi und Rennveranstalter Fabian Wegmann, „doch wenn das alle wollen, kann dies schon rein physikalisch nicht funktionieren.“ Die Folge: Es wird eng – oft zu eng.
Paris-Roubaix ist das nächste Hochrisikorennen
Ähnliche Szenarien drohen auch an diesem Sonntag beim Kopfsteinpflaster-Klassiker Paris-Roubaix. Eine der gefährlichsten Stellen ist die Einfahrt in die berühmt-berüchtigte Schneise durch den Wald von Arenberg. Dort soll nun erstmals eine Schikane die Fahrer ausbremsen. „Seit Monaten warnen wir alle, stattdessen erhöht sich die Zahl der Stürze“, sagt Renndirektor Thierry Gouvenou, der die Fahrer in die Pflicht nimmt: „Lasst uns das Massaker beenden.“
Ob der Appell gehört wird, ist fraglich. Am Sonntag wird es nun eben vor der neuen Engstelle zu Positionskämpfen kommen. Entsprechend fiel der Kommentar von Weltmeister Mathieu van der Poel aus: „Soll das ein Witz sein?“ Eher nicht. Denn nach Lachen ist im Radsport derzeit keinem zumute.
Airbag für Radsportler?
Sicherheit
Die Bilder von Radprofis, die über den Asphalt rutschen oder gegen Hindernisse knallen, schmerzen schon beim Betrachten. Zugleich stellt sich die Frage, ob nicht wie in anderen Sportarten mehr Initiative nötig wäre, um die nur mit einem Trikot und einer Hose bekleideten Körper besser zu schützen? „Es gibt sicher Möglichkeiten, mehr für die Sicherheit zu tun“, sagt Fabian Wegmann. Und Jens Voigt, auch er ein Ex-Profi, meint: „Die Technologie ist sehr weit fortgeschritten – da sind sicher auch für den Radsport Verbesserungen zu erreichen.“
Maßnahmen
Konkret geht es um Airbag-Systeme, die Kopf, Hals, Rücken und Schultern vor einem folgenschweren Aufprall bewahren könnten. Auch reißfeste Einsätze aus Kevlar oder Carbon in Trikots und Hosen könnte sich Voigt sehr gut vorstellen. „Der Radsport liebt die Tradition, ist konservativ. Ich kann mich noch gut an die kontroversen Diskussionen um die Helmpflicht erinnern“, sagt der TV-Experte, „ich plädiere dafür, weiter zu entwickeln und sinnvolle Dinge zu testen. Bis technische Hilfsmittel ausgereift sind, wird es sicher noch zwei, drei Jahre dauern. Doch wenn sie funktionieren, sollten sie auch eingeführt werden – wenn sie alle verwenden, entstehen ja keinem, was Gewicht und Tragekomfort angeht, Vor- oder Nachteile.“