Antonia und ihre Familie: ein eingespieltes Team in allen LebenslagenFoto: BVKH Foto: Lahrer Zeitung

Eltern und Geschwister brauchen viel Energie – und Unterstützung / Ein Tag im Europa-Park

Antonia, lange braune Haare, große dunkle Augen, rosafarbener Anorak und dicke Winterboots, sitzt auf dem Schoß ihres Vaters und blickt konzentriert in die Höhe. Dort oben, sicher fünf, sechs Meter über ihr, wirbeln wagemutige Trapez-Artisten durch die Luft. Nach jedem gelungenen Kunststück lächelt die zierliche Neunjährige, hebt ihre zarten Hände ein wenig, klatscht und legt sie dann wieder auf ihren Oberschenkeln ab. Wie schwer ihr der Applaus fällt, lässt sich nur erahnen. Tatsächlich kostet er Antonia wohl viel Willenskraft und Energie. Denn sie leidet an einer unheilbaren, speziellen Art von Muskelschwund, der spinalen Muskelatrophie. Diese Krankheit raubt ihr nach und nach jede Körperbeherrschung und wird ihre Lebenszeit deutlich verkürzen. "Zu klatschen ist inzwischen schwierig für sie", sagt ihre Mutter Isolde.

Der Vater links, der Bruder rechts

Antonia, ihr großer Bruder und ihre Eltern sitzen gerade in der Zirkus-Revue des Europa-Parks. Sie gehören zu den zehn Familien, die den Samstag als Ehrengäste verbringen durften – eine Aktion, die 2012 vom Bundesverband Kinderhospiz (BVKH) initiiert worden ist. Eingeladen hatte auch dieses Jahr wieder Mauritia Mack, Botschafterin des BVKH und Ehefrau des Park-Inhabers Jürgen Mack. "Mein Hauptanliegen ist es, den Familien einige unbeschwerte Stunden im weihnachtlichen Ambiente des Europa-Parks zu schenken, um neue Energie zu sammeln für die großen Herausforderungen in ihrem Alltag", sagt Mauritia Mack. BVKH-Geschäftsführerin Sabine Kraft ergänzt: "Es ist immer wieder wunderbar zu sehen, wie sehr sich die kranken Kinder, ihre Geschwister und Eltern über diesen Tag im Europa-Park freuen. Es ist zu spüren, wie gut es ihnen tut, einfach einmal ein wenig Abstand zu gewinnen von all ihren Sorgen und Ängsten."

Gerade sind Antonia und ihre Familie mit dem Dinosaurier-Karussell und den Marionettenbooten gefahren, jetzt bummeln sie weiter durch den Park. Die Neunjährige im Rollstuhl ist warm eingepackt, damit es ihr nicht zu kalt wird. Als ihr die bunte Häkelmütze vom Kopf rutscht, zieht sie der Vater wieder übers linke Ohr zurück, der große Bruder übers rechte Ohr. Ganz selbstverständlich. Vorhin haben Antonia und ihre Familie gemeinsam mit den übrigen Ehrengästen zu Mittag gegessen. "Mit anderen Familien in einer ähnlichen Situation ins Gespräch zu kommen, ist eine schöne Sache", sagt Antonias Mutter. Oft fühlen sich Familien mit einem lebensverkürzend erkrankten Kind bei anderen Betroffenen gut aufgehoben und verstanden – das gemeinsame Schicksal verbindet. In ihrem Alltag erleben viele Familien immer wieder, dass ihrer sehr herausfordernden Lebenssituation nicht genügend Verständnis, Aufmerksamkeit und Offenheit entgegengebracht werden und Freunde und Bekannte sich abwenden, weil sie das schwere Schicksal der Familie überfordert.

"Es tut einfach gut zu merken, dass es Menschen gibt, die respektieren, was wir im Alltag leisten", sagt sie. "Genau dieses Gefühl möchten wir den betroffenen Familien vermitteln: dass wir sehen und anerkennen, welche unglaubliche Herausforderungen sie bewältigen", sagt Sabine Kraft. "Abnehmen können wir ihnen diese Aufgabe zwar nicht. Aber wir können ihnen immer wieder zeigen, dass wir sie nicht alleine lassen."

Johanna, elf Jahre alt, strahlt ihre Mutter und ihren Vater an. Dass die beiden einen ganzen Tag mit ihr alleine verbringen, geschieht selten – denn Johanna hat einen schwerstkranken großen Bruder, der viel Aufmerksamkeit und Pflege braucht. Der 22-jährige Benedict leidet an einer angeborenen Eiweiß-Stoffwechselstörung, die seine Lebenserwartung stark verringert. Inzwischen ist er zu schwach für einen ganzen Tag im Vergnügungspark. "Als Mama habe ich immer das Gefühl, keinem meiner Kinder wirklich gerecht werden zu können", sagt Mutter Nicole. Eine innere Zerrissenheit, die typisch ist in Familien mit mehreren Kindern, von denen eines lebensverkürzend erkrankt ist: Häufig haben die Eltern ein schlechtes Gewissen, weil ihre gesunden Kinder immer wieder zurückstecken müssen und nicht immer genug Zuwendung bekommen. Und wenn sie sich dann doch ihrem gesunden Kind widmen, haben sie das Gefühl, ihren kranken Sohn oder ihre kranke Tochter zu vernachlässigen. Ständig fast bis zur Selbstaufgabe gefordert sein – und dennoch immer das Gefühl zu haben, den eigenen Kindern nicht all das geben zu können, was man gerne geben würde. "Auch heute sind meine Gefühle zwiespältig", sagt Nicole. Einerseits freut sie sich, dass ihre Tochter einen schönen Tag verbringt, andererseits ist sie in Gedanken auch bei ihrem kranken Sohn. Johanna genießt den Ausflug – obwohl es natürlich auch für sie noch schöner wäre, ihr großer Bruder wäre gesund genug, um dabei zu sein.

INFO:

In Deutschland sind nach aktuellen Schätzungen rund 40 000 Kinder so schwer krank, dass sie vermutlich das Erwachsenenalter nicht erreichen werden. Etwa 5000 von ihnen sterben jedes Jahr. Der Bundesverband Kinderhospiz (BVKH) setzt sich als Dachorganisation vieler ambulanter und stationärer Kinderhospize dafür ein, dass die betroffenen Familien nicht ins soziale Abseits gedrängt werden. Das Sorgen- und Infotelefon OSKAR des BVKH ist unter 0800/88 88 47 11 bei allen Fragen zur Kinderhospizarbeit rund um die Uhr erreichbar. Zudem setzt er sich politisch dafür ein, dass die Rahmenbedingungen der Kinderhospizarbeit und damit letztlich die Versorgung unheilbar kranker Kinder weiter verbessert werden. Der BVKH finanziert seine Arbeit nahezu vollständig aus Spenden.

Weitere Informationen: www.bundesverband-kinderhospiz.de