Die etwas andere Sitzordnung kann der magischen Atmosphäre im Bockshof nichts anhaben. Foto: Schwarzwälder Bote

Zimmertheater: Endlich wieder Kultur: "Das kunstseidene Mädchen" bringt die 30er-Jahre nach Rottweil

Nicht nur das "kunstseidene Mädchen" war am Freitagabend bei der Zimmertheater-Premiere auf der Suche nach etwas Echtem, auch die Zuschauer genossen es sichtlich, nicht auf dem Bildschirm, sondern auf einer Bühne Spannung und Emotionen hautnah erleben zu können.

Rottweil. Endlich wieder Theater, endlich wieder Kultur – die Vorfreude war dem Publikum anzumerken. Man war gelöst, ließ sich gerne in die schillernde Welt der Protagonistin Doris, gespielt von Nora Kühnlein, hineinziehen, und eines spielte nach einigen Minuten überhaupt keine Rolle mehr: Corona.

Alle Auflagen und Einschränkungen, etwa die etwas andere lockere Bestuhlung, die viel Platz für Beine und Gedanken ließ, konnten der Magie des Sommertheaters nichts anhaben. "Das ist mal etwas Anderes, hat auch seinen Reiz", meinte eine Zuschauerin zur Sitzordnung.

"Keine Konzerte, keine Lesungen, keine Ausstellungen –Kultur hat die vergangenen drei Monate wirklich gefehlt", beklagten zwei andere Zuschauerinnen. Es sei einfach wunderbar, gemeinsam wieder etwas Besonderes erleben zu können. So ging es dem Rest der Zuschauer ebenso. Die Freude schwappte durch alle Reihen. Und dann war es auch noch ein Auftakt nach Maß, der vor allem von der gewinnenden Art der Schauspielerin Nora Kühnlein lebte. Sie war im Ein-Personen-Stück "Das kunstseidene Mädchen" (nach dem Roman von Irmgard Keun) alleine auf der Bühne, schaffte es aber mühelos, dies vergessen zu lassen. Sie füllte den Bockshof mit Gesten, Gedanken und Emotionen.

Das gelang ihr so gut, dass sich das Publikum sofort ins schillernde Nachtleben Berlins versetzt fühlte und sich tief in der Gefühlswelt von Doris wiederfand, die von Hubert, Ernst und anderen Verehrern erzählte. Kühnlein fügte sich wunderbar in die Rolle der ziemlich naiven, übermütigen und etwas kopflosen Doris ein.

Vor allem die schnoddrige und gleichzeitig poetische Sprache, die den Reiz des Stücks zu großen Teilen ausmacht, sowie die vielen komödiantischen Momente brachte sie authentisch rüber. Die 18-jährige Protagonistin Doris entflieht dem Provinziellen und träumt davon, ein "Glanz" zu sein, von teuren Pelzmänteln, einer großen Garderobe und Flügeltüren, die aus ihr eine "Bühne" machen. Auf ihrem Weg hofft sie, ihrem Ziel durch einflussreiche Männer ein Stück näher zu kommen.

An die Liebe glaubt sie anfangs nicht so recht, weiß aber, wie sie auf Männer wirkt und setzt das gekonnt ein. Doch wie sehr sie sich auch anstrengt: Immer wieder entgleitet ihr der kurz gewonnene Reichtum. Doris sucht verzweifelt nach dem Glück und hadert dabei immer wieder mit sich selbst, ihrem Körper, ihrer Rolle als Frau und ihrem Fremd- und Selbstbild. Sogar der Pelzmantel aus sibirischem Eichhörnchen, der für sie der Inbegriff des Reichtums und Glücks ist, ist nur gestohlen. Und beim Versuch, jemand Besonderes und Wertvolles zu sein, verkennt sie ihren eigenen Wert und bleibt immer nur das "kunstseidene Mädchen", das nach einem guten Leben sucht – zwischen Selbstzweifeln und Selbstbewusstsein, nicht ganz ernst gemeinter Todessehnsucht und Lebensfreude. Nie kann sie das richtige Gefühl und den Reichtum festhalten.

Alles ist mehr Schein als Sein. Sie fühlt sich rastlos wie die Matrosen, deren Lieder sie auf der Bühne singt: "Auf die Dauer, lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz. Es blüh’n an allen Küsten Rosen, und für jede gibt es tausendfach Ersatz." Für die passende, beschwingte Musik sorgten im Bockshof Dorin Grama und Nicholas Charkviani.

Als Doris schließlich einem Mann begegnet, der es gut mit ihr meint, muss sie ihn freigeben, um ein guter Mensch zu sein. Am Ende ist sie im Kreis gelaufen, steht wieder dort, wo alles begann – ohne Pelz, ohne Geld, ohne Plan, doch mit einer wichtigen Erkenntnis: Auf den "Glanz" kommt es letztlich doch gar nicht an.

Und wie Nora Kühnlein als Doris mit ihren Koffern von dannen zog, legte sich ein Gefühl der Wehmut über die Zuschauer des Zimmertheaters. Wehmut, weil Doris ihr Glück nicht gefunden hat, aber auch, weil sich ein Abend, der einen für eineinhalb Stunden alles um einen herum vergessen ließ, dem Ende zuneigte. Ob es an der malerischen Kulisse des Bockshofs lag oder aber daran, dass das Leben Stück für Stück wieder normaler wird: Es war ein wenig von beidem, das den Zauber an diesem Sommerabend nur wenige Stunden nach dem heftigen Unwetter ausmachte. Ein fulminanter Auftakt.

Nun steht dem Zimmertheater noch einiges bevor: drei Stücke, drei Mal Frauenpower, 30 Aufführungen –so viel wie noch nie. Ein Kraftakt, den das Team nach der Zwangspause aber gerne auf sich nimmt. Schließlich hatten alle Kultur noch nie so sehr vermisst wie jetzt.