Sie zeigt keine Regung. Auch nach drei Stunden Betrachtung bleibt verborgen, was in dieser Frau vorgeht. Abweisend wie eine Sphinx thront sie über dem Altar, das Kind auf dem linken Arm, mit der rechten Hand weist sie auf den Bub. Tschenstochau auf Jazna Gora, dem hellen Berg, ist der bedeutendste Marienwallfahrtsort in Mitteleuropa. Er liegt 150 Kilometer von Krakau entfernt. „Jährlich pilgern vier Millionen Menschen zu der Festung, darunter 30 000 Besucher aus dem deutschsprachigen Raum“, informiert Schwester Margarita und setzt verschmitzt ein Bayerisches „Ja mei“ hinzu. Sie arbeitete lange in München in der Jugendsozialarbeit, jetzt führt sie Pilgergruppen über das Gelände. Es ist ein Kommen und Gehen, Messe folgt auf Messe, immerwährende Rushhour. Davon unbeeindruckt wenden sich die Pilger innig dem Gnadenbild zu. Mit einsetzender Dämmerung wird es ruhiger. Die Kapelle gewinnt an Tiefe. Die Gesichtszüge der schwarzen Madonna schälen sich aus dem Dunkeln. Prall gefüllt ist die Kapelle wieder um 21 Uhr. Nach kurzem Gebet fallen alle auf die Knie, die Jungen wie die Alten. Auch die Motorradfahrer mit Helm unter dem Arm. Inbrünstig und volltönend singen sie. Sie kennen den Text auswendig, es ist das angeblich älteste polnische Marienlied. Die Melodie und die polnische Sprache mit den vielen weichen Sch-Lauten klingen wie ein Liebeslied - Gänsehaut. Die Blicke der Menschen richten sich zu der rätselhaften Frau. Dort schiebt sich eine silberne Platte vor das Bild. In der Stille danach wirkt der Raum entzaubert. Die meisten gehen.

Papst Johannes Paul II. als berühmtester Marienverehrer

Um die auf Holz gemalte Ikone ranken sich Legenden. Tausendfach werden ihr Wunder zugeschrieben. Die Seitenwände erzählen davon, sie hängen voller Votivgaben: Krücken und Herzen, Rosenkränze, Bernstein- und Korallenketten. Als Folge eines Sieges bei der Landesverteidigung wurde die Ikone gekrönt, Maria zur Königin von Polen ernannt. Die Marienfigur von Tschenstochau gehört zu den Schwarzen Madonnen. Sie stehen in bedeutenden Wallfahrtsorten wie etwa Altötting, Einsiedeln, Montserrat. Manche sehen in ihnen die christliche Verkörperung heidnischer Muttergottheiten. Andere sagen, dass dieser Typus mit dem Templerorden aus dem Nahen Osten kam und damals modern war. Der berühmteste polnische Marienverehrer ist inzwischen ein Heiliger: Papst Johannes Paul II. Er stammt aus Wadowice, etwa 50 Kilometer von Krakau entfernt, 25 Kilometer sind es nach Auschwitz. Er wird geliebt. Und vermarktet. Wohin man auch sieht: Plakate, Wandbilder und Devotionalien mit seinem Abbild. In der Kirche eine Monstranz mit einer Blutreliquie von Johannes Paul II, eine Kopie des Kirchenbucheintrags der Geburt und der Taufe.

„Hier fing alles an“, prangt ein Zitat des Papstes dabei. Information, Pathos und Rührseligkeit verschmelzen. Vor der Kirche gleich neben dem Geburtshaus warten Schulklassen auf den Einlass. Einige der Wartenden zucken zusammen, als um 10 Uhr vom Kirchturm über Lautsprecher eine Melodie dröhnt. „Barka“, erklärt Sylvia Sumera, „das Lieblingslied von Johannes Paul.“ Sie führt durch das Geburtshaus, das mit fünf Millionen Euro in ein sehenswertes Museum umgebaut wurde. Der Mensch Karol Wojtyla wird dem Besucher dort ebenso nahegebracht wie der Papst, der für die Versöhnung mit „den geliebten älteren Brüdern“, wie er Juden einmal bezeichnete, eintrat. Sein Einsatz für die Verständigung mit Juden hat seine Wurzeln in Wadiwoce. Die Familie Wojtyla lebte zur Miete in einem jüdischen Haus, zahlreiche Freunde und Klassenkameraden waren jüdisch. Später als Zwangsarbeiter im Steinbruch und als Student in Krakau hat er mitbekommen, wie die deutschen Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und in den Konzentrationslagern ermordet haben.

Die jüdische Ortsgeschichte soll nicht vergessen sein

„Ich bin ein Anarchist. Und Linker.“ Der Mann, der das sagt, trägt Jeans und rote Schuhe. Der 38-jährige Mateusz Klinowski wurde vor zwei Jahren mit 57 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister im Geburtsort des Papstes gewählt. Das sorgte im erzkatholischen und nationalkonservativen Polen für Aufsehen. Mit seiner Haltung eckt der Jurist an. Noch bevor der amtierende Papst Franziskus vorschlug, jede Gemeinde solle eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen, wurde dies in Polen diskutiert. Klinowski erklärte sich bereit, eine aufzunehmen - und wurde mit Hasstiraden und Morddrohungen auf Facebook überzogen. „Die schreiben, man solle Gas anfordern, wollen eine bewaffnete Miliz. Vor wenigen Wochen wurde bei einer Demonstration eine Figur verbrannt, die einen Juden darstellte. Was kommt als Nächstes?“ Klinowski will Wadowice weg vom Tagestourismus bringen. Die Besucher sollen länger bleiben. Er plant eine Dokumentation der jüdischen Ortsgeschichte, des friedlichen Miteinanders. „Hier gab es eine große jüdische Bevölkerung. Das ist alles vergessen. Es gibt viele Leute in der Stadt, die das zeigen möchten.“