Foto: Unterweger/Schreijäg

Wolf-Dietmar Unterweger zeigt in einem kolossalen Bildband eine längst untergegangene Bauernwelt - und propagiert ihre Renaissance für die Zukunft der Landwirtschaft.

Mittagspause bei der Bauernfamilie Groß in Hausach im Kinzigtal (Foto 1). Es gibt Brot, Butter, geräucherten Speck vom Schwein – alles hausgemacht. Dazu eigenen Most und Zwetschgenwasser. Nicht unbedingt eine Mahlzeit, die Ernährungsberater empfehlen würden, aber dafür ist alles selbstgemacht und biologisch angebaut. Die Szene der vespernden Bauernfamilie hat der Fotokünstler Wolf-Dietmar Unterweger im August 1984 festgehalten. Lange bevor es Bioprodukte in den Mainstream und die Discounterregale schafften. "Ich wusste schon vor 30 Jahren, dass die Zukunft in der Vergangenheit liegen wird", kommentiert Unterweger heute.

Das Foto der Schwarzwaldbauern zeigt einen Moment des Innehaltens nach der kraftraubenden, manuellen – mit Sense und Schlitten betriebenen – Weizenernte. Und es zeigt einen Menschenschlag, den es heute vermutlich kaum mehr gibt: Geerdete Bauersleute, Knechte und Mägde, die in der einfachen Arbeit ihr Glück empfinden. So zumindest erlebte sie der Fotograf Wolf-Dietmar Unterweger, und so porträtiert er "die Bauern" in seinem gleichnamigen Bildband. "Sie nehmen sich Zeit zum gemeinsamen Essen" vermerkte Unterweger beeindruckt neben dem Foto von Familie Groß.

Wolf-Dietmar Unterweger wurde 1944 in Dresden geboren; nach dem Krieg zog seine Familie nach Wain (Kreis Biberach) – die Heimat seines Vaters. In seiner Kindheit sei es noch ganz normal gewesen, dass man sich die Milch beim Nachbarsbauern holte oder zwischen den Hühnern spielte, erinnert sich Unterweger wehmütig. Er selbst habe auf dem Hof des Onkels ausgeholfen. Heute müsse man schon zum Einkaufen in die nächste Stadt fahren, ärgert sich der 71-Jährige. Unterweger ist eigentlich promovierter Chemiker, arbeitete nach dem Studium in der Pharmaindustrie. "Aber schon damals habe ich immer sehnsüchtig aus dem Fenster geschaut." Er beginnt Texte zu schreiben und lässt sich von einem Freund das Fotografieren beibringen. Ende der 70er-Jahre dann das Schlüsselerlebnis: Von seiner Mutter erfährt Unterweger, dass in Wain ein altes Bauernhaus abgerissen werden soll. "Das war für mich wie ein Weckruf", sagt er heute. Er kündigte den Pharmajob und widmete sich wie besessen fortan seiner Mission: Die letzten Spuren der alten, traditionellen Bauern zu finden und sie für die Nachwelt festzuhalten. "Ich wollte alles fotografieren, das mit der ursprünglichen bäuerlichen Kultur zu tun hat."

Auf der Suche nach einem aussterbenden Bauernschlag

Seine "ursprünglichen" Bauern, das sind für Wolf-Dietmar Unterweger diejenigen, die noch mit Ochsen, Kühen oder Pferden den Acker pflügten, während andere sich schon die zweite Generation Traktoren angeschafft hatten. Diejenigen, die noch ihre Sense dengelten, während der Nachbarshof schon von einem Großbetrieb aufgekauft war. Diejenigen Bauern also, die schon zu Beginn von Wolf-Dietmar Unterwegers Fotografenlaufbahn, Ende der 70er-Jahre, vom Aussterben bedroht waren.

Aber dennoch fand Unterweger noch vereinzelt seinen Bauernschlage, die Landwirte, die sich dem vermeintlichen Fortschritt widersetzten. So etwa Bauer Rösch (Foto 3) aus Laichingen auf der Schwäbischen Alb, der noch 1984 von Hand das Getreide aussäte. "Diese einfachen Menschen und ihre Lebenswelt haben mich gerettet", sagt Unterweger über seine Motive. Seine Faszination für die Bauern rühre von der eigenen Sehnsucht nach dem einfachen, unverkopften Leben. Die simplen Weisheiten der Bauern seien sein Antrieb. So soll etwa Bauer Rösch 84-jährig zu Unterweger gesagt haben: "Was däät I in meim Alter, wenn I it no an Ackergaul hätt – ‘S wär eum doch langweilig."

Oder als Unterweger 2002 die Bauersfrau Kayser (Foto 13) aus Unteropfingen im Allgäu fotografierte und sie fragte, wann sie denn Urlaub mache? Da soll die Frau geantwortet haben: "Wenn ich mein Melkgeschirr angehängt habe, dann setzte ich mich hinter die Kühe auf dem Schemel und dann mache ich Urlaub." Es sind diese banalen Sätze, die Wolf-Dietmar Unterweger ins Schwärmen bringen. "Frau Kayser ist einfach eine unglaubliche Frau", sagt der Künstler noch heute enthusiastisch beim Blick auf das Foto der Bäuerin. Walt Whitman, der berühmte US-amerikanische Dichter, schrieb einmal: "Einfachheit ist die üppige Schönheit des Ausdrucks." Mit diesem Satz lässt sich auch Wolf-Dietmar Unterwegers Schönheitsideal auf den Punkt bringen.

"Der Schöpfer hat mich für diese Aufgabe ausgewählt", sagt der gläubige Protestant über seine Arbeit als Fotokünstler. Und fügt weniger prätentiös hinzu: Die Bauern seien einfach ehrliche Leute, damit könne er sich gut identifizieren. Um diese ehrlichen Bauern auch seinerseits möglichst authentisch darzustellen, hat Unterweger alle seine Fotos analog geschossen. "Keine Szene ist inszeniert, kein Bild nachträglich bearbeitet", insistiert der 71-Jährige. Über 500.000 Fotos hat er so in den vergangenen 40 Jahren gemacht, oft bei düsterem Wetter. Er brauche "diffuses Licht, keine Schatten, keine Sonne, sondern grauen Himmel", sagt Unterweger – um die Fotos auf das Wesentliche zu reduzieren. 1063 davon hat er jetzt ausgewählt und in dem dreiteiligen Bildband "die Bauern" veröffentlicht. Untertitel: "Diese Bauern braucht das Land".

"Die Bauern": Kunstwerk, Lexikon und Manifest

Herausgekommen ist ein Mammutwerk – eine Mischung aus Lexikon, Fotokunst und Manifest. Darin zeigt Unterweger nicht nur die Bauersleute, sondern bettet diese ein in ihre Umgebung: Tiere, Werkzeuge, Höfe, Wiesen, Ställe. Mit der Akkuratesse des Naturwissenschaftlers katalogisiert er verschiedenste Fenstertypen oder Wiesenblumen. Mit dem subjektiven Blick des Künstlers hält er abbröckelnde Hauswände in einem seiner Leitmotive fest. Und mit dem Gesamtwerk verfolgt Unterweger auch ein klares politische Ziel: "Die Landwirtschaft muss radikal geändert werden." Sie müsse von den anonymen Massenbetrieben wieder zurück ins Dorf geholt werden. In der sehnsüchtigen Versenkung in die Vergangenheit findet Unterweger sein Konzept für die Zukunft: "Eine Landwirtschaft, die gesunde Lebensmittel, Arbeitsplätze, Biodiversität, Klasse statt Masse, Kultur und Kunst erzeugt."

Unterweger meidet in seinen Bildern Prunk und Perfektionismus. Wahre Schönheit findet er stattdessen in zum Verfall verdammten Häusern und genügsamen Bauersleuten. Gerade in deren Beharrlichkeit sieht Unterweger Selbstverwirklichung. Frei nach Albert Camus könnte man Unterwegers Bildband auch mit folgendem Satz untertiteln: "Wir müssen uns die früheren Bauern als glückliche Menschen vorstellen."

Ein Stück weit romantisiert der Fotokünstler dabei auch die Lebensweise der alten Bauern. Er glaubt, in ihnen die freisten Menschen entdeckt zu haben, fernab von zivilisatorischen Zwängen. Verkennt er dabei aber deren körperliche Strapazen, die Unfreiheiten? Diese sind freilich evident: Die Magd Käthe etwa wird zitiert mit den Worten "Bei meinem Bruder (dem Bauern) herrscht das Prinzip ungebrochener Autorität." An einer anderen Stelle verbietet ein 90-jähriger Bauer seiner 70-jährigen Tochter, einen Elektroherd anzuschließen – stattdessen muss sie bei eisigen Temperaturen in der archaischen Rauchküche des Vaters Essen zubereiten.

War denn früher alles besser? Werden die alten Zeiten verklärt?

Beschönigt, ja verklärt Unterweger die alten Zeiten?  "Nein", meint er selbst. Wer das behaupte, verstehe ihn falsch. Selbstverständlich war früher nicht alles besser. "Ich trauere dieser Zeit nicht nach, sondern will mit meinen Fotos das Positive von ihr hinüberretten", sagt er.

Mittlerweile seien so gut wie alle porträtierten Bauern nicht mehr am Leben, viele Höfe an Großbetriebe verkauft oder eingestellt, alte Häuser abgerissen. In der Familie Groß in Hausach glaubte Unterweger damals 1984 seine "Urbauern" gefunden zu haben. "Der Bauer Groß war einer, der bevor er das Feld mähte, eigenhändig die Frösche rausammelte", schwärmt Unterweger. "Ich war total sprachlos: Was für eine Achtung vor der Schöpfung!"

Doch auch die Bauern Groß stiegen damals schon vom Schlitten auf den Ladewagen um. Der heutige Hofbesitzer in Hausach, Johannes Spinner, findet die Fotos von 1984 zwar wunderschön, aber sagt auch: "Alles von Hand zu machen, ging eigentlich schon damals nicht mehr." Zwar blieb der Hof in Familienbesitz – Spinner ist ein Enkel einer der damaligen Bäuerinnen –, doch heute benutzt der Bauer "selbstverständlich" einen Traktor, und der Getreideanbau würde sich sowieso nicht mehr rentieren.

"Klar", gibt auch Wolf-Dietmar Unterweger zu: "Die alten Zeiten sind vorbei." Trotzdem fände er es schön, "wenn auch unsere heutigen industriellen Landwirte solch schöne gemeinsame Momente erleben könnten, wie die Familie Groß damals zur Mittagszeit." Die Bauern, die heutzutage an Unterwegers Haus vorbeifahren, sehe er immer nur alleine auf ihrem Traktor hocken.