Als beste Darstellerin ausgezeichnet: Sandra Hüller am 24. Februar bei der diesjährigen César-Verleihung in Paris Foto: AFP/Stephane de Sakutin

Die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin Sandra Hüller hat bei den diesjährigen Oscars gleich zwei Eisen im Feuer. Wie sie damit umgeht, für welchen Film ihr Herz mehr schlägt und was die 45-Jährige aus der Arbeit an „Zone of Interest“ mitnimmt, erzählt sie in Berlin.

Für ihre Hauptrolle im französischen Drama „Anatomie eines Falls“ darf die Schauspielerin Sandra Hüller auf den Oscar für die Beste Hauptdarstellerin hoffen. In „The Zone of Interest“ schlüpfte die Thüringerin in die Rolle der Hedwig Höß, Frau des Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, die auf der anderen Seite der Todesmauer ein Familienleben führt. Der Film wurde für fünf Oscars nominiert.

Frau Hüller, erleben Sie die Zeit der Oscar-Nominierungen als Druck oder Freude?

Es gibt dabei mehrere Ebenen. Es ist mir sehr bewusst, dass das alles Zuschreibungen sind, das wenigste hat mit mir zu tun. Ich bewerte sie nicht, es ist das Recht der Leute, sich irgendetwas vorzustellen. Ich habe nur nichts damit zu tun, weder im positiven noch im negativen Sinne. Die Erwartungen haben nichts mit mir zu tun, ich kann nichts mehr machen. Ich habe nur in der Hand, wie ich darauf reagiere und damit umgehe. Mit meinem Privatleben hat das im Grunde gar nichts zu tun. Ich fühle mich genauso wie vorher auch. Alles andere spielt sich außerhalb ab. Es gibt ein paar Grenzüberschreitungen der Presse, die ich sehr ärgerlich finde. Aber auch dagegen kann ich nichts machen, mir sind die Hände gebunden. Ich kann mich nur damit abfinden.

Es gibt Leute, die an Ihrer Stelle vor Freude herumspringen würden.

Das habe ich auch gemacht, aber das kann ich ja nicht jeden Tag tun. Ich habe mich gefreut, als ich das erfahren habe. Sehr sogar. Man kann aber nicht jeden Tag mit diesem Gefühl herumlaufen.

Schlägt Ihr Herz für einen der beiden Filme stärker?

Dadurch, dass beide Filme extreme Teamprojekte sind, ist das jetzt alles genau richtig. Ich glaube nicht, dass ich mich beschweren kann, was die momentane Anerkennung für die eine oder andere Seite betrifft.

Zu „The Zone of Interest“. Was hat es mit Ihnen gemacht, Hedwig Höß zu spielen?

Ich muss sagen, dass ich mich in diese Figur persönlich nicht so richtig involviert habe, weil es nicht darum ging, biografisch zu erzählen. Das war nicht unser Ansinnen. Wir wollten dieses Phänomen beleuchten oder uns fragen, wie es eigentlich möglich ist, so zu leben. Was das mit uns zu tun hat und ob wir das nicht – im übertragenen Sinne – auch machen. Und die Frage, ob Faschismus vorbei ist oder ob er nicht die ganze Zeit da war und man aktiv daran arbeiten muss, dass er nicht gewinnt. Es gibt diesen Teil im Menschen, der Sachen vereinfacht haben, immer an der Spitze von allem und besser als alle anderen sein will. Es soll keine Störungen geben, und alles muss möglichst bequem sein. Darum ging es uns, gar nicht so sehr um diese Frau. Die ist mir relativ egal.

Ist es wahr, dass Sie die Rolle zuerst nicht spielen wollten?

Mich hat es einfach nicht interessiert, einen faschistisch denkenden Menschen zu verkörpern. Die Arbeit des Schauspielenden hat auch immer damit zu tun, Dinge verstehen zu wollen, empathisch zu sein und vielleicht sogar das Handeln eines Schuldigen nachvollziehbar zu machen. Hier habe ich zunächst kein richtiges Motiv gesehen. Es gibt für mich keinen nachvollziehbaren Grund, warum man so handelt, und ich will das auch nicht verstehen. Es ist eine Entscheidung, die diese Leute treffen: Sie nehmen für ihr eigenes schönes Leben den Tod von Millionen Leuten in Kauf oder lösen und führen ihn sogar aus. Das ist indiskutabel.

Hedwig wohnt in einem kleinen Einfamilienhaus-Idyll mit schicken Sachen, gießt die Blümchen. Die Schüsse und das Schreien hört sie nicht.

Genau. Und düngt mit der Asche der Leichen die Blumen, so wie es eben auch war. Es ist keine neue Erkenntnis von Jonathan Glazer oder uns, dass wir alle für unsere eigene Bequemlichkeit sehr viel Leid anderer Leute in Kauf nehmen. Bei dieser Arbeit ist es mir aber noch mal extrem bewusst geworden. Ich habe eine andere Aufmerksamkeit für die Verantwortung für den Umgang mit diesem Thema bekommen. Auch für die Verantwortung, meine eigene Stimme in dieser Hinsicht stärker zu nutzen, als ich es vorher getan habe. Die Kleidung, die wir tragen, ist von Menschen genäht und verschifft, die mit dem Bruchteil dessen auskommen müssen, womit wir hier leben. Wir beuten Menschen und Tiere jeden Tag aus, um uns zu ernähren. Darüber muss man eigentlich gar nicht reden. Das findet jeden Tag und überall statt. Wir akzeptieren Tote an den Außengrenzen Europas.

Die meisten Menschen verdrängen im Alltag vieles, um überhaupt weiterleben zu können. Welche Schutzmechanismen haben Sie vor diesen bedrückenden Wahrheiten entwickelt?

Eigentlich keine. Mich bedrückt das auch sehr, das kann ich offen zugeben. Die scheinbare Unlösbarkeit der Konflikte, in denen wir uns gerade befinden, macht mich sehr verzweifelt. So etwas wie Faschismus fängt ganz klein an, wie Antifaschismus eben auch. Das faire Miteinander hat in erster Linie auch mit unseren unmittelbaren Beziehungen zu tun, in unseren Familien. Und vor allem mit der Arbeit an uns selbst, mit dem Sich-selbst-ins-Gesicht-Schauen, mit dem Mit-sich-selbst-ins-Gericht-Gehen, Über-sich-Lernen, wachsen, die eigenen Impulse kennen, Gefühlsmanagement – all diese Sachen. Dass Menschen nicht mehr bei jedem Ding, das im Straßenverkehr falsch läuft, dem anderen gleich mit Tod drohen. Das sind die Dinge, mit denen wir im Moment täglich umgehen. Das ist vermeintlich ganz klein. Es ist aber etwas, womit wir uns schon sehr abgefunden haben. Wir leben damit. Es geht um diese Art von Aufmerksamkeit: Wo halte ich bestimmte Dinge für selbstverständlich, die das gar nicht sind? Wo könnte ich mich bei bestimmten Themen stärker engagieren? Wo kann ich öfter mal intervenieren, gerade auch bei Diskussionen in der Familie, wenn es um die AfD und Co. geht? Was lässt man in der Whatsapp-Gruppe durchgehen, oder sagt man doch mal was? Das wird als gegeben hingenommen. Warum können wir uns nicht mehr treffen, warum können wir uns nicht mehr persönlich darüber unterhalten?

Corinna Harfouch, die wie Sie in Suhl geboren wurde, hat die Rolle der Magda Goebbels in „Der Untergang“ sehr belastet. Können Sie Rollen wie diese nach dem Drehtag einfach abschütteln?

Während der ganzen Drehzeit war das, wo wir uns befinden, immer präsent. Auch unsere Herkunft oder die Geschichte, mit der wir alle leben. Ich bin aber nicht abends als Hedwig Höß ins Bett gegangen. Die Arbeit hatte sehr viel mit Kostümen und Maske zu tun und sehr viel mit diesem Haus. Das übergeordnete Bewusstsein dessen, was man da tut, war immer da. Nach Abschluss der Dreharbeiten gab es auch nichts abzulegen. Wie gesagt, ich bin nie richtig in diese Rolle reingegangen. Ich habe mich eher als Element in diesem Film wahrgenommen und keine psychologische Arbeit mit dieser Figur gemacht oder versucht, irgendeine Art von Empathie oder Verständnis zu finden. Ich habe mich nicht in irgendeiner Art und Weise emotional involviert.

Sie haben sich im Grunde als Instrument in diesem Film bewegt?

In gewisser Weise ist diese Art zu denken oder sie zu formulieren gefährlich, denn genau so haben die sich auch gesehen. Aber ich glaube, dass dieser Versuchsaufbau, den Jonathan Glazer hier gemacht hat, ein bisschen anders ist als das System, in dem diese Leute damals gelebt haben. Keiner wollte während der Arbeit am Film, dass irgendjemand irgendein Verständnis für irgendjemanden aufbringt. Es ging tatsächlich um eine Beobachtung dieses Lebens, die so neutral wie möglich stattfindet. Mit einer Geräuschkulisse, die zeigt, dass es nicht zu ignorieren war, was da passiert. Trotzdem haben sie das gemacht. Mich sprechen immer wieder Leute an und sagen, dass sie sehr über sich selbst und ihr eigenes Verhalten zur Welt nachgedacht hätten, über ihre eigene Ignoranz. Es werden offenbar Verbindungen zu den Zuschauenden geknüpft, die ich sehr interessant finde.

Um auf die Oscars zurückzukommen: Darf man den Daumen drücken?

Das können Sie gerne machen. Aber Sie dürfen dann nicht schreiben: Sie ging leer aus. Denn ich fühle mich jetzt schon sehr geehrt.

Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller im Oscar-Rennen 2024

Auszeichnung
 Nicht umsonst ist nicht nur der Titel „Oscar-Winner“ rechtlich geschützt, sondern auch „Oscar-Nominee“. Allein die Nominierung für eine der Königskategorien der Academy Awards ist für die 45-Jährige eine große internationale Auszeichnung.

Konkurrenz
 Außer Sandra Hüller sind als Darstellerinnen nominiert: Annette Bening für ihre Rolle in dem Sportlerinnen-Biopic „Nyad“, Lily Gladstone in Martin Scorseses Geschichtsdrama „Killers of the Flower Moon“, Carey Mulligan für ihre Rolle als Ehefrau Leonard Bernsteins in „Maestro“ und Emma Stone als sich emanzipierender Kunstmensch in „Poor Things“. Die Entscheidung liegt bei den Mitgliedern der Schauspiel-Berufsgruppe der US-Akademie in geheimer Abstimmung. Die Oscar-Gala findet am 10. März in Los Angeles statt.