Agrarminister Cem Özdemir will Kinder vor Werbung für ungesundes Essen schützen. In einigen Ländern gibt es bereits höhere Steuern. Was Ernährungsexperten sagen und welche Wirkung solche Maßnahmen tatsächlich haben.
Essen ist Privatsache – eigentlich. Doch immer mehr Gesundheitsverbände sehen das anders. Sie sind für eine strengere Regulierung, zum Beispiel mithilfe von Werbeverboten oder höheren Steuern auf Fetthaltiges und Süßigkeiten. Unterstützung erhalten sie dabei nun von Bundesagrarminister Cem Özdemir, der insbesondere Kinder per Gesetz vor Werbung für gesundheitsschädigende Lebensmittel schützen möchte. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Werbewirtschaft, die es bisher gegeben habe, hätten beim Kinderschutz versagt, so der Grünen-Politiker. Wir beantworten wichtige Fragen dazu.
Was schlägt Özdemir konkret vor?
Im Umkreis von 100 Metern soll nach den Plänen Özdemirs auch Außenwerbung für ungesunde Lebensmittel in der Nähe von Kindertagesstätten, Spielplätzen und Schulen verboten werden. Zwischen 6 und 23 Uhr solle keine entsprechende Werbung gesendet werden, die sich an Kinder richtet. Das Vorhaben betreffe auch das Internet, in dem Kinder leichten Zugang zu Werbung erhalten. „Wir verbieten nicht die Werbung an sich und auch nicht die Herstellung dieser Lebensmittel, aber die Werbung darf sich nicht mehr gezielt an Kinder richten“, sagte Özdemir. Die geplanten Regelungen orientierten sich am Nährwertprofil der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Wie stark sind Kinder Werbung für Süßes und Fettiges ausgesetzt?
Laut einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2021 beziehen sich 92 Prozent der Lebensmittelwerbung, die Kinder wahrnehmen, auf die Vermarktung von Produkten, die viel Fett, Salz und Zucker enthalten. Demnach sieht ein Kind, dass Medien nutzt, hierzulande durchschnittlich pro Tag 15,48 Werbespots oder -anzeigen für ungesunde Lebensmittel. Davon entfallen 5,14 auf das Internet und 10,34 auf das Fernsehen. Zugleich ist die Zahl der TV-Spots pro Stunde um 29 Prozent gestiegen.
Gibt es bereits Werbeverbote?
In verschiedenen Ländern wie Spanien aber auch Großbritannien gibt es ein eingeschränktes Werbeverbot. Dass diese Restriktion wirkt, zeigt eine Untersuchung, die in 76 Ländern die Entwicklung in den Jahren 2002 bis 2016 betrachtet hat, bestätigt der Ökonom Tilman Becker, der viele Jahre als Professor an der Universität Hohenheim tätig ist. „In den Ländern, in denen es gesetzlich vorgegebene Werberestriktionen für ungesunde Lebensmittel gab, ist der Konsum ungesunder Lebensmittel gesunken.“ Und zwar um knapp neun Prozent. Dagegen haben freiwillige Selbstverpflichtungen nicht dazu geführt, dass weniger ungesunde Lebensmittel gekauft worden sind. Und in Ländern ohne Beschränkung ist der Pro-Kopf-Verkauf von ungesunden Lebensmitteln sogar um knapp 14 Prozent gestiegen. Werbeverbote für ungesunde Lebensmittel haben somit auch einen einen Einfluss auf das Einkaufsverhalten der Eltern. „Denn oft kaufen Eltern die Lebensmittel ein, die die Kinder sich wünschen“, sagt Becker.
Lassen sich Kinder von Werbung zu ungesundem Essen verführen?
Ja. Dazu gibt es verschiedene Studien. So hat eine Untersuchung der australischen Universitäten Sydney, Liverpool und Wollongong schon 2018 gezeigt, dass Kinder, die in TV und Computerspielen Werbung für ungesunde Produkte sahen, am Tag durchschnittlich 46 Kilokalorien (kcal) mehr aßen, als Kinder der beiden Kontrollgruppen. Besonders ausgeprägt war der Effekt bei bereits übergewichtigen Kindern – sie aßen 95 kcal mehr. Dabei wurden nicht einmal die beworbenen Produkte angeboten: Die Werbung verführte die Kinder offenbar generell dazu, mehr zu essen. „Dass die Werbung einen Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten der Kinder hat, gilt bereits als belegt“, sagt Barbara Bitzer, Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Und zwar auch in Familien, die sonst auf sehr gesundes Essen achten. „Besonders besorgniserregend ist aber, dass diese Ernährungsgewohnheiten sich auch bis ins Erwachsenenalter fortsetzen.“ Denn wer als Kind übergewichtig ist, ist es zumeist auch als Erwachsener und das mit gravierenden gesundheitlichen Folgen.
Würde Werbung auch bei gesundem Essen funktionieren?
Ja. Es gibt Untersuchungen, in denen Ernährungswissenschaftler rohen Karottensticks, die Schülern als Beilage angeboten worden sind, lustige Namen gegeben haben, wie „Die Karotten mit dem Röntgenblick“. Diese kleine Veränderung führte dazu, dass die Kinder doppelt so viele Karotten aßen als sonst. Einen ähnlichen Effekt konnte das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund nachweisen. Die Experten ließen Kinder zwischen Joghurts mit Vollkornmüsli wählen. Der Inhalt war identisch, die Gestaltung des Bechers jedoch verschieden. Die meisten Kinder entschieden sich für einen Joghurt mit lustigem Bildmotiv, der den Namen Knabbadus trug. Dieses Produkt kam bei den Kindern deutlich besser an als der Joghurt im normal gestalteten Becher.
Braucht es weitere Maßnahmen ‚wie eine Zucker- und Fettsteuer?
„Eine Maßnahme allein wird das Problem von Übergewicht und Adipositas nicht lösen“, sagt Barbara Bitzer von der DANK. Es brauche ein Maßnahmenbündel – etwa zusätzlich eine Mehrwertsteuerbefreiung von Obst und Gemüse und im Gegenzug eine Herstellerabgabe auf stark gezuckerte Getränke. Letzteres habe in Großbritannien dazu geführt, dass etwa die Hersteller von Limonaden den Zuckeranteil ihrer Produkte um mehr als 30 Prozent reduziert haben. Auch ist es dringend notwendig, dass „in Schulen und Kindergarten verbindlich eine Stunde Schulsport und Bewegung eingeführt wird“, so Bitzer.
Was sagt die Industrie?
„Die Vorschläge von Bundesminister Özdemir sind aus unserer Sicht nicht verhältnismäßig und zudem verfassungsrechtlich bedenklich“, heißt es beim Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI). Die geplanten Werbeverbote seien nicht zielführend, um den Anteil übergewichtiger Kinder zu verringern. Es gebe keine wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit solcher Werbeverbote auf Übergewicht bei Kindern.
Welchen Einfluss haben Familien auf die Ernährung von Kindern?
Das Ernährungsverhalten wird maßgeblich in der Kindheit geprägt, sagt der Ökonom Becker von der Uni Hohenheim. „Wenn Kinder oft Fertigprodukte als Hauptmahlzeit erhalten, so werden diese Kinder als Erwachsene Fertigprodukte lieber mögen.“ Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer als Kind gewohnt ist, dass Vollkornbrot, Obst und Gemüse zur normalen Ernährung gehören, wird sich vermutlich auch später gesund ernähren. „Zudem ist bekannt, dass der Geschmack auch von dem vergangenen Konsum abhängt“, sagt Becker. Wenn Kinder viel süße Limonade trinken, wird diese Süße von ihnen anders wahrgenommen, als von Kindern, die selten Limonade trinken. „Gerade bei Zucker gibt es ausgeprägte Gewöhnungseffekte.“ Von Sätzen wie „Mag ich nicht!“ sollten sich die Eltern übrigens nicht beirren lassen. Kinder sollten wenigstens von allem probieren. Studien zeigten, dass sie nach etwa zehnmal Probieren plötzlich feststellen: Das mag ich doch!