Nikolaus Landgraf Foto: Fritsch

Nikolaus Landgraf plädiert für eine starke Rolle der Gewerkschaften in der Zukunft.

Von Florian Würth

Oberndorf. Traditionell stehen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine acht Mitgliedsgewerkschaften der Sozialdemokratie nahe. Im Redaktionsgespräch bei unserer Zeitung in Oberndorf rückt DGB-Landesvorsitzender Nikolaus Landgraf jedoch schnell klar: Er versteht sich in erster Linie als Repräsentant der organisierten baden-württembergischen Arbeitnehmer. So soll einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der neuen grün-roten Landesregierung keine Parteipolitik in die Quere kommen.

Ist die neue Regierungskonstellation im Land nicht ungewöhnlich interessant für die Gewerkschaften? Landgraf meint »Ja«. Zumal viele Forderungen des DGB zugleich Kernelemente des grün-roten Koalitionsvertrags seien: Tariftreuegesetz, Mindestlohn, Fachkräfte-Allianz. »Einzelne Punkte hätten mehr Fleisch verdient«, deutet der 44-Jährige an, aber grundsätzlich ist er zufrieden. Nichtsdestotrotz werde der Gewerkschaftsbund die Regierung kritisch begleiten. »Unser Job ist, auf die Umsetzung zu achten. Es wird sicherlich nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen sein. Man muss nachhaken.«

Bei Grün-Rot fehlen Landgraf die Gewerkschafter

Eine Note will Landgraf der neuen Regierung noch nicht ausstellen. Sorgen darüber, dass die Grünen nicht als typische Wirtschaftspartei gelten, plagen ihn jedenfalls nicht: »Ministerpräsident Winfried Kretschmann nimmt die Wirtschaft sehr ernst.« Landgraf räumt ein, dass er bei den Köpfen der neuen Regierung gerne mehr Gewerkschafter gesehen hätte. Doch er verweist auf Themen, die seiner Meinung nach mehr drängen: dass Arbeit anständig bezahlt wird und die Menschen davon leben können. Altersarmut drohe zu einem Problem zu werden.

Der aktuelle Aufschwung der Wirtschaft sorge auf keinen Fall dafür, dass es automatisch allen besser geht. »Der bekannte Spruch ›sozial ist, was Arbeit schafft‹ ist falsch«, meint der gebürtige Neu-Ulmer, und führt aus: »Wir haben in den Betrieben Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse. Dort wird mit Leiharbeitern kalkuliert.« 94 000 Menschen in Baden-Württemberg seien in der Leiharbeit beschäftigt, bundesweit gar eine Million. »Die Leiharbeit war ursprünglich ein Instrument, um Auftragsspitzen in der Wirtschaft abzufedern. Davon sind wir heute aber weit entfernt.«

Viele können nicht von ihrer Arbeit leben

Sein Fazit: Aus der Krise habe die Politik nicht viel gelernt. Deshalb, kündigt er an, »werde ich mich zu Wort melden, wenn es Entwicklungen gibt, die nicht in Ordnung sind«. Etwa zum Stichwort »prekäre Beschäftigungsverhältnisse«. Viele Menschen könnten heute nicht mehr von ihrer Arbeit leben. Wer einen Minijob habe, wisse zudem oft gar nicht, dass dieser auch mit Rechten wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaubsansprüchen verbunden sei.

Die Feststellung, zum Thema Atomenergie hätten sich die Gewerkschaften merkwürdig still verhalten, will Landgraf nicht gelten lassen. »Der DGB hat hier eine glasklare Positionierung.« Das Bekenntnis zum Atomausstieg habe er selbst bei zentralen Veranstaltungen wie der Menschenkette zwischen Stuttgart und dem AKW Neckarwestheim im März kundgetan.

An der Bundespolitik kritisiert der DGB-Landeschef besonders Entwicklungen im Gesundheitswesen. »Die Sozialversicherung wurde früher paritätisch finanziert, das heißt von Arbeitgebern und Versicherten zu gleichen Teilen. Heute jedoch tragen die Arbeitnehmer 60 Prozent der Kosten«, so Landgraf. Enttäuscht zeigt er sich auch darüber, dass sich in Sachen Tarifeinheit keine gesetzliche Festlegung abzeichnet. Seit einem Jahr hätten DGB und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in einer gemeinsamen Initiative an einer gesetzlichen Realisierung gearbeitet, »aber es hat sich politisch nichts getan«. Deshalb sei der DGB aus der Allianz ausgestiegen. »Es musste die Reißleine gezogen werden«, sagt Landgraf.

Tarifverträge kein Auslaufmodell

Hat das Tarifsystem etwa so langsam das Ende seiner Leistungsfähigkeit erreicht? »Ich glaube nicht«, widerspricht Landgraf. Er räumt zwar einen Rückgang allgemeinverbindlicher Tarifverträge ein, auf der anderen Seite aber nehme die Zahl der Firmen- und Haustarifverträge zu. Vor allem in den Zukunftsindustrien sieht Landgraf Bedarf für den Ausbau von Tarifregelungen: »Etwa in der Umweltbranche müssen sich die Gewerkschaften gut aufstellen.«

Wir steht es grundsätzlich mit dem Tarifmodell? Sind Tarife nicht in Wachstumszeiten in Ordnung, spätestens dann aber ein Hemmschuh und bloße Besitzstandswahrung, wenn sich Unternehmen auf widrigere Marktbedingungen einstellen müssen? Einspruch, sagt der gelernte Fliesenleger. Gewerkschaften hätten die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten. Für den Geschäftserfolg sei dagegen die Innovationskraft der Unternehmen ausschlaggebend.

In eigener Sache zeigt sich Landgraf selbstbewusst. Einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Gewerkschaften lässt er nicht gelten. »Wir müssen uns mit rückläufigen Mitgliederzahlen auseinandersetzen, genau wie andere Verbände und die Kirchen«, räumt er ein. Und weiter: »Klar, minus ist minus, aber der Verlust hat sich minimiert. Unsere Mitgliederzahlen werden oft unterschätzt«. Die Zahl nennt er gleich mehrfach, und das klingt dann doch respekteinflößend: 814 000 Mitglieder zählen die acht Einzelgewerkschaften des DGB in Baden-Württemberg. Eine Zahl, auf die keine Partei bundesweit kommt, und die alle Parteien im Südwesten zusammengenommen lange nicht erreichen.

Deshalb, kann man Landgraf verstehen, müssen die Gewerkschaften auch liefern. Sich zu Wort melden in der Gesellschaft, »bei jungen Menschen etwas drehen« und wenn die Zeiten es möglich machen, eben für einen »kräftigen Schluck aus der Pulle sorgen«.