Gerd Reuther, Arzt und Buchautor, warnt in seinem Vortrag vor Überdiagnosen in der Schulmedizin. Foto: Haubold Foto: Schwarzwälder Bote

Vortrag: Gerd Reuther referiert in der VHS vor gut 60 Zuhörern

Mit einem "Highlight zum Semesteranfang", so Volkshochschulleiter Jonas Reck, startete die VHS in das Herbstsemester. Gerd Reuther, Arzt aus Saalfeld und Verfasser des Buches "Der betrogene Patient", sprach über Überdiagnosen und unnötige Therapien in der Schulmedizin.

Oberndorf. "Die Medizin hat mit der gestiegenen Lebenserwartung rein gar nichts zu tun." Diesem Ausspruch wurde der Radiologe und Buchautor Gerd Reuther mit einem anschaulichen und kurzweiligen Vortrag vollumfänglich gerecht. Natürlich seien lebensverlängernde Maßnahmen sinnvoll. Doch die Mehrzahl der heutigen Behandlungen sei nicht heilsamer als der Spontanverlauf. Weder bei der Mandeloperation im Teenageralter, Knie- und Schulteroperationen oder der Bandscheiben-OP gebe es Belege für den Nutzen, sagte der Mediziner, der in seinem von zahlreichen Statistiken gestützten Vortrag der Wirksamkeit von Behandlungen in der Schulmedizin nachspürte und der Frage nachging, wie man es schafft, möglichst lange gesund zu leben.

Mit über 30 Jahren Berufserfahrung führte der Arzt aus, dass das Gesundheitssystem in Deutschland meist gar nicht an der langfristigen Gesundung von Kranken interessiert ist. Vielmehr stünden die Gewinne der Kassen und Kliniken auf der Agenda. Die Medizin hierzulande sei sehr teuer, in die Medikamente und die Klinikbetten fließe das meiste Geld.

Reuther skizzierte zu Beginn den Einfluss der Medizin auf die gestiegene Lebenserwartung und erläuterte die Erwartungen von Patienten. Der Kranke benötige Aufklärung, Abhilfe und genaue Diagnosen.

Warnung vor dem Aktionismus mancher Ärzte

Krankheit entstehe dadurch, dass die Menschen länger leben. Reuther zeigte die demografische Alterung auf. Die weltkriegsbedingt geringeren Jahrgangsstärken hätten längst das Sterbealter erreicht, wodurch schlichtweg weniger Menschen sterben und rechnerisch die Lebenserwartung ansteige.

Blutdruck- und Cholesterinsenker würden viel zu häufig verschrieben und grundsätzlich würden die Ursachen für Todesfälle und Erkrankungen zu selten in Medikamenten gesucht. Vor der Zulassung werden die Medikamente meist an jüngeren Menschen getestet. Später seien es dann aber eher ältere Patienten, die diese Mittel einnehmen. Schon aus diesem Grund seien die Untersuchungen nicht repräsentativ.

Reuther warnte vor ärztlichem Aktionismus, nannte dabei auch präventive Behandlungen. Klassisches Beispiel für den "Schein der Medizin" sei die Grippeimpfung: "Von hundert Geimpften hat letztlich einer etwas davon." Gelenkprothesen bei über 90-Jährigen, riskante Operationen an alten Menschen, Wechselwirkungen verschiedener Medikamente mit Nebenwirkungen, Chemotherapien im letzten Lebensmonat, all das sei heute an der Tagesordnung und gehöre zum Geschäftsmodell der Kliniken. "Wenn der Patient ein Risikopatient ist, gibt es mehr Geld von der Kasse", brachte es Reuther auf den Punkt.

Selbstheilung sei bei einer Vielzahl von Beschwerden wirksamer als Behandlung. Der Mediziner referierte anschaulich, bisweilen provokativ, und belegte seine Aussagen immer wieder mit Zitaten aus der wissenschaftlichen Literatur. Nur 14 Prozent der medizinischen Behandlungen seien sinnvoll, so das Fazit des Redners. Sichtlich interessiert zeigten sich die zumeist älteren Zuhörer im voll besetzten Vortragssaal. Wer wollte, konnte am Ende Fragen an den Referenten stellen.