Zusammen mit den Jobcenter-Mitarbeitern simulierte Deeskalationstrainer Markus Leipersberger realitätsnah Angriffe am Arbeitsplatz. Foto: Bernklau

Jobcenter-Beschäftigte in Freudenstadt und Nagold lernen, mit gefährlichen Situationen im Alltag umzugehen.

Kreis Freudenstadt/Kreis Calw - Ihnen wird mit Bomben und mit Mord gedroht, Menschen legen Messer auf ihre Schreibtische und kündigen an, sich vor ihren Augen umzubringen, Alkoholisierte attackieren sie.

Für die Mitarbeiter der Jobcenter in den Kreisen Calw und Freudenstadt sind solche Vorkommnisse keine Unbekannten. "Fast täglich kommt es vor, dass Menschen bei uns massiv auftreten und drohen", erzählt Ortwin Arnold, Leiter des Jobcenters in der Agentur für Arbeit in Nagold. Lange versuchte man, diese Situationen irgendwie intuitiv zu lösen. Doch dann kam dieser Tag im September: In Neuss sticht ein arbeitsloser Marokkaner auf eine Jobcenter-Mitarbeiterin ein. Die Frau verblutet binnen kürzester Zeit an ihrem Arbeitsplatz. Inzwischen wurde der Täter wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Fast täglich kommt es zu Drohungen

Diese Tat hat in den Jobcentern und Arbeitsagenturen das Thema Sicherheit in den Fokus des Interesses gerückt. "Mitarbeiter sollen sich an ihrem Arbeitsplatz sicher fühlen", sagt Jobcenter-Leiter Ortwin Arnold. "Allerdings wissen wir, dass 100 Prozent Sicherheit unmöglich ist."

Man überarbeitete das Sicherheitskonzept der Arbeitsagentur und organisierte mit Experten der Polizei Begehungen der Büros in allen Agentur-Zweigstellen. Dabei spielte unter anderem die Positionierung des Schreibtisches eine nicht ganz unwichtige Rolle. Versperrt er möglicherweise einen potenziellen schnellen Fluchtweg, sollte es zu einer Eskalation im Büro kommen? Selbst das, was auf den Schreibtischen liegt, war ein Thema dieser Begehungen. Denn jede Schere, jeder Kugelschreiber, ja sogar Telefone mit Kabel können von Aggressoren als Waffen gegen den Jobcenter-Mitarbeiter verwendet werden – und wurden es bereits. Seit dieser Begehung mit der Polizei liegen nur noch sehr wenige Dinge auf den Schreibtischen der Mitarbeiter. An jedem Schreibtisch der Agentur Nagold-Pforzheim findet sich zudem jetzt ein kleiner, aber "immens lauter" Alarmgeber, darüber hinaus verfügen die Mitarbeiter an ihrem PC über ein Alarmsystem, mit dem man die Kollegen mittels Tastenkombination über eine Gefahrenlage verständigen kann.

Unter den Mitarbeitern sei auch der Wunsch nach einer Bewaffnung mit Elektroschocker oder Reizgas laut geworden, berichtet Arnold. Doch davon habe man in der Agentur abgesehen – und das nicht nur, weil solche Gegenstände gewartet werden müssten, sondern auch durchaus gegen die Mitarbeiter selbst eingesetzt werden könnten.

Im Jobcenter ist man jetzt einen ganz anderen Weg gegangen, den der Deeskalation. Dazu hat man sich ein Duo ins Haus geholt, das sich auf Selbstschutz und Deeskalation versteht: Markus Leipersberger und Heinz Kurth haben in Schömberg ein Unternehmen aufgebaut, das sich auf genau diese Dinge spezialisiert hat. Beide sind Gewaltpräventions- und Deeskalationstrainer, darüber hinaus haben sie jahrelange Erfahrung in Selbstschutz und Selbstverteidigung.

Bedrohungssituationen werden nachgespielt

Doch um Selbstverteidigung ging es überhaupt nicht in den Seminaren, die die beiden Trainer in den vergangenen sechs Monaten mit 60 Mitarbeitern der Jobcenter der Kreise Calw und Freudenstadt absolviert haben: "Es ging hier ausschließlich um die Deeskalation von heiklen Situationen", betont Markus Leipersberger. Und da reiche es nicht, sich auf die Theorie zu beschränken. Reale Bedrohungssituationen wurden so lebensnah wie möglich nachgespielt. "Da haben die Kollegen ihre Grenzen kennengelernt", berichtet Arnold. "Vielen ist es sehr schwer gefallen, selbst laut zu werden."

Mit lauter Stimme zeigen, dass man jemand ist

Auch wenn die Seminare nur je einen Tag gedauert haben, gelernt haben die Teilnehmer so manches, nicht nur das Laut werden. Eine Frau etwa lernte sich gegen zwei auf sie einstürmende Männer zu behaupten, andere erfuhren, dass sie mit erhobenem Körper und lauter Stimme zeigen können, dass sie jemand sind. Andere erkannten, dass sie bei der Einrichtung ihres Büros auf mögliche schnelle Fluchtwege achten und der Kraft des Gegners einfach aus dem Weg gehen müssen. Und dass auch ein Gesetzbuch mal ein effektives Mittel sein kann, um sich zu wehren – wenn man es wirft.

Bei den Teilnehmern stieß das Deeskalationstraining durchweg auf gute Resonanz. "Ich werde jetzt mit einem sichereren Gefühl zur Arbeit gehen", resümierte eine Teilnehmerin, die aber trotzdem hofft, dass sie die Dinge, die sie gelernt hat, möglichst nicht anwenden muss.