Geht ihren eigenen Weg: Bera Wierhake. Foto: Baumann

Bera Wierhake zählt zu den weltweit besten Leichtathletinnen, die eine Organtransplantation hinter sich haben. Sie liebt ihren Sport – und will mit ihrer Lebensgeschichte positive Werte vermitteln.

Im Sport gibt es nicht nur Spielmacher, Bessermacher und Geschäftemacher, es gibt auch Mutmacher. Athleten, die für andere ein Vorbild sind – mit ihrer Leistung, ihrer Geschichte, ihrem Auftreten, ihrem Lebenswillen. Bera Wierhake (23) ist eine solche Mutmacherin.

 

Die Leichtathletin startet künftig für den VfB Stuttgart, und sie ist ein ganz besonderer Neuzugang. „Was sie macht, ist unglaublich“, sagt Abteilungsleiter Dieter Göggel, „alle, die mit ihr sprechen, sind tief beeindruckt.“ Weil Bera Wierhake etwas zu erzählen hat. Über den Wert des Sports. Und ihr Leben, das sie als großes Geschenk empfindet.

Bera Wierhake kam in Öhringen mit einer Gallengangsatresie zur Welt. Die Gallenflüssigkeit floss nicht richtig ab, die Leber drohte zu vergiften. Diese Krankheit ist der häufigste Grund für Lebertransplantationen bei Kindern. Auch Bera Wierhake benötigte ein neues Organ, um zu überleben. Im Familienkreis gab es keinen passenden Spender, es begann eine nervenzehrende Wartezeit. „Viele Babys mit der selben Diagnose sind in diesem halben Jahr gestorben“, sagt sie, „bei mir war es am Ende fünf Minuten vor zwölf.“

Eine Reise nach Australien und Südostasien

Erst die dritte Leber, die in Frage kam, passte für das mittlerweile neun Monate alte Kind. Nach der Operation in Essen kam es zwar zu Komplikationen, die zwei weitere Eingriffe erforderten, doch letztlich ging alles gut. „Für mich war das eine zweite Chance“, erklärt Bera Wierhake, „als mir später klar wurde, was das bedeutet, habe ich alles getan, um mit dieser zweiten Chance verantwortungsbewusst umzugehen.“

Noch immer muss Bera Wierhake Medikamente nehmen, damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstößt. Zudem ist ihr Immunsystem anfälliger für Infekte. Ansonsten? Führt sie seit jeher ein ziemlich normales Leben. Ihre Eltern machten keine Unterschiede zwischen ihr und ihren beiden Schwestern, packten sie nicht in Watte. Ausgrenzung hat Bera Wierhake nie erlebt, auch weil sie mit ihrer Krankengeschichte stets offen umging. Mit 17 Jahren machte sie das Abitur, reiste danach sechs Monate durch Australien und half anschließend drei Monate beim Aufbau von Schulen in Südostasien – wovon ihre Ärzte alles andere als begeistert waren: „Die Verantwortung für den Trip wollte niemand übernehmen.“ Losgeflogen ist Bera Wierhake trotzdem. Und auch im Sport hat sie ihren Weg gefunden.

Das gemeinsame Schicksal verbindet

Als Kind war sie nicht nur beim Ballett und im Turnen aktiv, sondern spielte zudem Fußball und ist geritten – gegen den Rat der Mediziner. Die nichts einzuwenden hatten, als sich Bera Wierhake mehr und mehr der Leichtathletik zuwandte, nachdem der damals 15-Jährigen während einer Kinderfreizeit von einer Krankenschwester erzählt worden war, dass es eigene Wettkämpfe für Transplantierte gebe. Kurz darauf schaute sie erstmals bei den Leichtathleten des TSV Öhringen vorbei und stellte sich Trainerin Irina Benner mit einem kurzen Satz vor: „Ich will zur Weltmeisterschaft.“

Schnell war klar, dass aus Bera Wierhake keine Sprinterin werden würde, sie aber großes Talent für die Mittel- und Langstrecke besitzt. Der Reiz, gegen andere Transplantierte anzutreten, die eine vergleichbare Geschichte haben und die selbe Sprache sprechen („Ich bin eine Leber. Und Du?“ – „Eine Niere. Dort drüben steht eine Lunge.“), war von Anfang an groß. Und ist es geblieben. „Das gemeinsame Schicksal verbindet, es fühlt sich an wie in einer Familie“, sagt Wierhake, „bei den Wettkämpfen sind alle ehrgeizig, aber es gibt keine Missgunst. Vor allem feiern wir uns selbst. Und das Leben.“

„Ich bin Leistungssportlerin“

Weltweit gibt es rund 2500 organtransplantierte Athleten, die sich in Wettkämpfen messen. Bei den Weltmeisterschaften geht es um Medaillen in 14 Sportarten, neben der Leichtathletik auch im Schwimmen, Radsport oder Tennis. Dabei spielt keine Rolle, welches und wie viele Organe transplantiert wurden. Mit 16 Jahren war Bera Wierhake erstmals dabei – und räumte bei den World Transplant Games 2017 im spanischen Malaga in der Frauen-Konkurrenz richtig ab: Sie gewann vier Goldmedaillen in den Einzelrennen über 400, 800, 1500 und 5000 Meter, dazu zweimal Staffel-Silber und Bronze über 200 Meter. Danach spezialisierte sie sich auf die längeren Strecken, zudem wurde die Zahl der Kontrahentinnen größer. Dennoch blieb Bera Wierhake erfolgreich, holte bei der EM 2018 auf Sardinien (2x Gold, 1x Silber), der EM 2022 in Oxford (2x Gold) und der WM 2023 in Perth (2x Gold, 3x Silber) etliche weitere Podestplätze. Für die Zukunft? Bleibt es spannend: „Man weiß nie, ob jemand Neues dazukommt. Klar ist nur, dass ohne ernsthaftes Training Medaillen nicht möglich sind.“

Wierhake, die in Zweiflingen-Orendelsall bei ihren Eltern lebt, BWL mit Schwerpunkt Fashion studiert hat und im Einkauf eines Modeunternehmens in Schwäbisch-Hall arbeitet, trainiert an sechs Tagen in der Woche zwei bis drei Stunden. Alles ist dabei: Laufen auf der Bahn oder im Wald, Feilen an der Technik, Einheiten im Kraftraum. „Ich bin“, sagt sie, „eine Leistungssportlerin.“ Ihre schnellsten Zeiten über 1500 Meter (5:18 Minuten) und 5000 Meter (19:28) liegen trotzdem einiges über den Bestwerten nichttransplantierter Athletinnen – weil ihr Körper längere Regenerationszeiten benötigt, mit Medikamenten zu kämpfen hat, öfter Auszeiten nach Infekten benötigt. „Ich kann an meine Grenzen gehen“, sagt sie, „aber eben nicht so oft wie Normalos.“

Schwierige Sponsoren-Suche

Dass sie sich komplett selbst finanzieren muss, ist ein weiterer limitierender Faktor. Sponsoren findet sie höchstens für einzelne Events, bei etlichen Gesprächen spürt sie, dass das Thema Organspende und Transplantation politisch aufgeladen ist: „Viele Unternehmen haben die Sorge, sich hier zu positionieren.“ Beim VfB ist das anders.

Dieter Göggel („Wir leben die Vielfalt“) will Bera Wierhake dabei unterstützen, sich finanziell und eventuell auch beruflich bessere Voraussetzungen für den Sport zu schaffen. Weil er höchste Bewunderung dafür hat, wie sie ihre Karriere vorantreibt. Aber nicht nur. Auch ihre Persönlichkeit beeindruckt. Denn neben Beruf und Sport engagiert sich die 23-Jährige sozial. Sie nimmt Urlaub, um in Kliniken als Gesprächspartnerin zur Verfügung zu stehen, vor allem für Eltern, die vor Transplantationen bei ihren Kindern große Sorgen haben. Und sie erklärt Medizinstudenten, wie sich Menschen fühlen, die ein fremdes Organ in sich tragen. „Viele Patienten und Angehörige kämpfen mit der Angst“, sagt Bera Wierhake, „dabei geht es doch vor allem darum, das Geschenk des neuen Lebens zu nutzen, Freude zu empfinden, die Welt zu bereichern. Ich will ihnen mit meiner Geschichte Mut machen.“