Bernd Riexinger, der neue Bundeschef der Linkkspartei. Foto: dapd

Gewerkschaft Verdi und Landesverband der Partei müssen sich in Stuttgart neuen Vorsitzenden suchen.

Stuttgart - Bernd Riexinger hat wenig Zeit. Kurz verlässt er die Sitzung der Bundestagsfraktion in Berlin für ein Gespräch. „Die Welt hat sich verändert“, sagt er. Und das schneller, als er selbst jemals gedacht hätte. Eben noch ist der 56-Jährige Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Stuttgart und Landessprecher der Linken gewesen. Jetzt ist er Bundeschef der Partei und ständig unterwegs. Seit zehn Tagen ist nichts mehr, wie es war.

Erst kurz vor dem Parteitag in Göttingen tauchte Riexinger als Kandidat des Lafontaine-Lagers auf – als Kompromiss, um die Einheit der zerstrittenen Partei zu wahren. Und wurde gewählt. Seitdem bildet er mit Katja Kipping die Doppelspitze der Partei. Mit der hat er inzwischen ein Programm ausgearbeitet und dabei die ihm vorher wenig bekannte neue Kollegin ein bisschen beschnuppert. „Ich habe ja selbst erst am Dienstag vor dem Parteitag erfahren, dass man auf mich setzt“, erzählt er.

In Stuttgart ist er seitdem nicht mehr gewesen

Seitdem ist der Terminplan voll. „Es gibt ein großes Interesse der Öffentlichkeit und auch in der Partei, mich kennenzulernen“, sagt der Stuttgarter – und hofft auf mehr Normalität, wenn sich der erste Wirbel gelegt hat. In Stuttgart ist er seitdem nicht mehr gewesen. Aus dem einwöchigen Urlaub am Lago Maggiore, der eigentlich geplant war, sind zwei Tage geworden. Die hat sich der in Leonberg geborene frühere Bankkaufmann aus den Rippen geschnitten. „Ich wollte noch ein bisschen aus dem Trubel raus und unter Freunden und bei meiner Familie sein“, sagt er.

Riexinger ist auf dem Thron der deutschen Linken angekommen, den viele für einen Schleudersitz halten. Zumindest sitzt der Stuttgarter nun zwischen allen Stühlen der verschiedenen Lager. Und er steht schlagartig im Rampenlicht. Dabei liegt seine vielleicht größte politische Niederlage gerade einmal ein gutes Jahr zurück. Bei der Landtagswahl im März 2011 hatte die Partei zur Wahlparty in den Landespavillon im Mittleren Schlossgarten eingeladen – nur wenige Meter entfernt von der Stuttgart-21-Baustelle, gegen die man so vehement gekämpft hatte. Doch die Lorbeeren dafür holten sich andere ab. Keine drei Prozent – schon nach der ersten Hochrechnung sackte die Stimmung bei den 150 Gästen in den Keller.

„Wir haben einiges mehr erwartet“, räumte damals ein geknickter Bernd Riexinger ein, „wir hätten den Einzug in den Landtag verdient gehabt.“ Doch die Wählermasse sprang auf den Fukushima-Zug auf – soziale Themen, die sich die Linken auf die rote Fahne geschrieben hatten, landeten auf dem Abstellgleis. Die Ratlosigkeit war groß, der Kampfeswille deutlich getrübt.

Verdi-Gremien beraten über Nachfolge

In der nächsten Zeit wird Riexinger seine ganze Überzeugungskraft auspacken müssen, um die Partei zu einen. Seine Gewerkschaftserfahrung aus zahlreichen Arbeitskämpfen dürfte dafür nicht die schlechteste Voraussetzung sein. Doch genau die wird dem Verdi-Bezirk Stuttgart künftig fehlen. Seit elf Jahren ist Riexinger als Geschäftsführer für 51 000 Mitglieder zuständig. Und muss jetzt ersetzt werden.

„Das Ganze kam schon sehr überraschend“, sagt seine Stellvertreterin Ursula Schorlepp. Erst Tage vor der Wahl zeichnete sich die Situation plötzlich ab. In der Woche danach hielt Schorlepp allein die Stellung – der zweite Stellvertreter Peter Klumpp war ebenso wenig da wie Riexinger, der ja eigentlich hätte im Urlaub sein sollen. „In der Nacht nach Bernds Wahl wurde mir schlagartig klar, dass das jetzt eine sehr außergewöhnliche Woche wird“, erinnert sich Schorlepp. Tags darauf trommelte sie die letzten Mohikaner unter den wenigen in den Ferien anwesenden Mitarbeitern zu einer Sitzung zusammen.

Ganz verloren geht Riexinger Verdi vielleicht nicht. Das hängt nicht zuletzt von seinem politischen Erfolg ab. „Ich bin zunächst zwei Jahre lang beurlaubt. So lange wird die Stelle in Stuttgart nur kommissarisch besetzt“, sagt der scheidende Geschäftsführer. Verdi räumt Parteifunktionären grundsätzlich ein Rückkehrrecht ein. In der nächsten Woche hat sich Riexinger zwei Tage freigeräumt, um nach Stuttgart zu kommen und die Geschäfte zu übergeben. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich noch gar nicht mit allen reden konnte“, sagt er, „das ist sonst nicht meine Art.“

In diesen Tagen treffen sich die Verdi-Gremien, um über die Nachfolge zu beraten. „Wir müssen Projekte übergeben und einen neuen Geschäftsführer finden“, sagt Schorlepp, die nun selbst im Spiel ist. Wichtig sei, ein kämpferischer, konfliktorientierter Bezirk zu bleiben. Einfach werde die Aufgabe für keinen Nachfolger, denn Riexinger habe sich „in vielen Bereichen sehr gut ausgekannt“. Er besitze zudem die Fähigkeit, sich Dinge in Ruhe anzuhören und dann eine Strategie zu entwickeln.

Das dürfte ihm auch bei seiner neuen Aufgabe helfen, die man ihm bei Verdi gönnt: „Die Entwicklung dieser Partei ist auch sein Baby“, sagt Schorlepp, „er hat einen ganz dicken Brocken vor sich, für den er viel Kraft und Unterstützung braucht.“ Deren kann er sich von Gewerkschaftsseite aus sicher sein: „Es geht darum, den politischen Flügel für Arbeitnehmer im Bund zu erhalten“, sagt Schorlepp. Und für sie selbst jetzt darum, den Verdi-Laden neu zu organisieren.

Dass sich Riexinger durchgesetzt hat, wundert manchen

Beim Landesverband der Linken ist der Zugzwang nicht so groß. Zwar braucht man auch dort jetzt einen Ersatz für den bisherigen Landessprecher Riexinger, doch an Personal mangelt es nicht. „Wir sind nicht unter Druck“, sagt der Landesgeschäftsführer Bernhard Strasdeit. Im Landesvorstand seien schließlich noch fünf weitere Leute, deshalb sehe man die Lage „ganz entspannt“. Die Sprecherrolle könne man einfach neu vergeben, ein neues Vorstandsmitglied werde man wohl erst beim Landesparteitag im Januar wählen.

Jetzt müssen sich erst einmal die Landesgremien der Linken darüber klar werden, dass einer der ihren nun die Bundespartei führt. Denn überraschend kam die Kandidatur und Wahl Riexingers auch für die Genossen in Baden-Württemberg. „Die Idee kam zwar immer mal wieder auf, dass er das machen könnte, aber ernsthaft erwogen hat man das wohl erst ein paar Tage vorher“, sagt Strasdeit, der in der Woche danach zahlreiche Fragen aus seinem Urlaubsort im Allgäu beantworten muss. „Bei der Regionalkonferenz am 20. Mai jedenfalls hätte Bernd wohl noch nicht im Traum daran gedacht, was auf ihn zukommt.“

Dass sich Riexinger beim Parteitag durchgesetzt hat, wundert so manchen. Und einige sehen ihren bisherigen Landeschef in dieser Rolle kritisch. Der Kreisvorstand Zollernalb trat nach der Wahl aus Enttäuschung geschlossen zurück, weil er die Linke jetzt auf dem falschen Weg sieht. „Es gibt gewisse Gräben, aber der Konflikt zwischen Linken-Dogmatikern und Reformern ist künstlich hochgezogen worden“, sagt Strasdeit. Überwiegend finde Riexingers Wahl im Land große Zustimmung. „Dennoch sehen wir das mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, so Strasdeit. Schließlich werde es schwer, die Lücke zu füllen: „Er hat für uns eine wichtige politische Funktion.“

Noch wichtiger aber dürfte Riexingers private Funktion für seine Familie sein. Die Lebensgefährtin und deren Tochter bleiben in Stuttgart. Der passionierte Hobbykoch sucht sich für die Woche eine Wohnung in Berlin. „Ich werde die Bodenhaftung nicht verlieren. Es wird sich viel ändern, aber auch viel bleiben“, sagt er. Und muss zum nächsten Termin. Die Welt ist jetzt eine andere.