Drei Wochen lang haben die Bürger von Immendingen Gelegenheit gehabt, die Pläne für die neue Daimler-Teststrecke einzusehen und Stellung zu nehmen. Kritik gab es kaum.
Drei Wochen lang haben die Bürger von Immendingen Gelegenheit gehabt, die Pläne für die neue Daimler-Teststrecke einzusehen und Stellung zu nehmen. Obwohl 155 Hektar Wald gerodet werden, gibt es kaum Kritik. Weil die Bundeswehr geht, ist die 200-Millionen-Investition höchst willkommen.
Immendingen - Als es noch die Wehrpflicht gab, kursierte unter den Rekruten ein Witz. „Gott behüte uns vor drei Dingen, Hunger, Durst und Immendingen.“ Tatsächlich ist die Trostlosigkeit in der Gemeinde mit rund 3000 Einwohnern an diesem grauen Wintertag mit den Händen zu greifen. Entlang der Bundesstraße nach Tuttlingen steht jeder dritte Laden leer. Das Kino Gloria ist zwar renoviert, aber geschlossen, im vormals gutbürgerlichen Gasthaus ein türkischer Schnellimbiss untergebracht. Tausend Lastwagen donnern täglich über die Straße, die den Ort zerschneidet – viele davon in den Tarnfarben des französischen Militärs und der Bundeswehr.
An einem Neubaugebiet vorbei geht es hinauf in den Wald, in dem die Oberfeldwebel-Schreiber-Kaserne liegt. Etwa 800 Soldaten der deutsch-französischen Brigade sind hier noch stationiert, ein Teil ist vor drei Jahren bereits nach Metz abgezogen worden. Immendingen und die Bundeswehr waren über viele Jahrzehnte eine Schicksalsgemeinschaft, die Soldaten der mit Abstand wichtigste Wirtschaftsfaktor. Bei jeder Bundeswehrreform bangten die Gemeindeoberen. 2011 schließlich kündigte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière die Schließung an.
Bundeswehr in Immendingen bald Geschichte
Die Bundeswehr in Immendingen ist bald Geschichte, aber die Zukunft hat bereits Einzug gehalten. Unweit vom Rathaus hat der Autobauer Daimler im April 2012 ein Forum eröffnet, um die Bürger an den Plänen des Autokonzerns teilhaben zu lassen. Im Herbst dieses Jahres soll auf dem Kasernengelände eine hochmoderne Test- und Prüfstrecke entstehen. 200 Millionen Euro will Daimler in die Hand nehmen.
Hinter dem Tresen des kleinen Schauraums steht Carmen Bergt (50) und erklärt bis zu zehn Besuchern täglich sowie vielen Schulklassen oder Naturschutzverbänden das Vorhaben. Früher hat sie wie viele Immendinger bei einem Medizintechnikunternehmen in Tuttlingen gearbeitet. Daimler hat sie abgeworben, weil sie im Ort bekannt ist wie ein bunter Hund. „Derzeit wird die Beschaffenheit des Bodens geprüft“, sagt Bergt und zeigt auf zwei großen Glasröhren mit unterschiedlichen Gesteinsproben. Daneben steht ein Modell der geplanten Strecke. Die vielen Schleifen muten beinahe wie ein Kunstwerk an. „Das wird hier alles so transparent wie möglich gemacht“, sagt sie.
Vielleicht ist dies neben der Aussicht auf 300 Jobs zu Beginn und bis zu 1500 langfristig der Grund, warum die Bürger das Großprojekt mit breiter Mehrheit unterstützen. „Das schafft Arbeitsplätze und ist auf jeden Fall besser als das , was hier war“, sagt Paul Bosch (76), der auf dem Weg zur Donauhalle ist, wo die Pläne am Abend vorgestellt werden sollen. Und Fatih Aslankilic (21), der den Schnellimbiss an der Hauptstraße betreibt, hofft in Zukunft auf mehr Kundschaft. „Die werden ja nicht jeden Tag in der Kantine essen“, ist er überzeugt. Auch Carmen Bergt hat im Daimler-Forum bisher kaum negative Reaktionen erlebt. Sie spürt vielmehr die Aufbruchstimmung im Ort und erzählt von Bekannten, die sich wegen Daimler entschieden hätten zu bleiben, statt wegzuziehen wie so viele zuvor.
Immendingen will Imagewandel
Nur wenige Schritte vom Daimler-Forum entfernt sitzt Bürgermeister Markus Hugger, der maßgeblich für die Ansiedlung der Stuttgarter verantwortlich ist. „Wir wollten uns rechtzeitig frei machen von den Plänen der Bundespolitik“, sagt er mit Anspielung auf die vielen Reformen der vergangenen Jahren, bei denen immer wieder Standorte infrage gestellt wurden. „Wir haben jedes Mal gezittert wie der Hase vor dem Fuchsbau.“ Stattdessen hat Hugger zugegriffen, als vor zwei Jahren die Anfrage von Daimler kam. Dafür schickt er nun die Bundeswehr sogar früher weg als ursprünglich geplant und hofft auf einen Aufschwung seiner gebeutelten Gemeinde. „Wir wollen einen Imagewandel weg vom Bundeswehr- zu einem Zukunftsstandort.“
Am Abend sitzen rund 300 Bürger von Immendingen bei einer Anhörung in der Donauhalle. Daimler hat sämtliche Experten der Planung aufgefahren, die nun das Vorhaben erläutern. Es geht etwa um die Schutzmaßnahmen für die Natur. So soll ein Wildkorridor gebaut werden, der Luchs und Wildkatze die Überquerung des Areals ermöglicht, falls diese sich wieder in der Region ansiedeln. Für die mehr als 200 Hektar, die Daimler zubetoniert, werden als Ausgleich 575 Hektar der Natur zurückgegeben, etwa in Form von Laichgewässern, Biberflächen oder Magerwiesen. „Die ganze Region profitiert von den Natur- und Artenschutzmaßnahmen außerhalb des Gebiets“, sagt Paul Baader vom gleichnamigen Mannheimer Umweltplanungsbüro.
Vom Lärm der Erprobungsfahrzeuge, die Tag und Nacht ihre Runden drehen, sollen die Bewohner möglichst wenig mitbekommen. Die zulässigen Grenzwerte wie etwa 35 Dezibel in einem reinen Wohngebiet bei Nacht würden eingehalten, verspricht der Tübinger Umweltingenieur Frank Dröscher. 35 Dezibel, so zeigt es die an die Wand geworfene Folie, entspricht dem Geräusch in einer Bibliothek. Gegenüber dem Militärbetrieb sei dies eine wesentliche Verbesserung.
Kritische Fragen aus dem Publikum gibt es keine, dafür jede Menge Erwartungen. „Wenn der Daimler kommt, kommt dann endlich auch die Umgehungsstraße?“, will einer wissen. Bürgermeister Markus Hugger bremst die Euphorie. Noch sei die Straße in der Prioritätenliste des Bundes nicht weit genug oben. Ein anderer Besucher sorgt sich lediglich darum, ob die von Daimler betriebenen Sportstätten auch von den Bürgern benutzt werden dürften.
Eine Stunde Fahrtzeit von Sindelfingen zur Teststrecke
Nach der Veranstaltung erklärt Lothar Ulsamer, Leiter kommunale und föderale Projekte bei Daimler, warum Immendingen ein Glücksfall für den Konzern ist. 120 Gelände habe man in Baden-Württemberg sondiert. Mal sei der Ziegenmelker, eine gefährdete Vogelart, der Grund gewesen weiterzusuchen, mal die Bedenken vieler betroffener Landwirte wie im Fall Sulz am Neckar. In Immendingen dagegen musste Daimler bei den Grundstücken nur mit dem Bund und rund einem Dutzend weiterer Eigentümer verhandeln. Mit etwa einer Stunde Fahrzeit von Sindelfingen ist das Gelände in einer tolerierbaren Entfernung zum Entwicklungszentrum. Ulsamer verspricht sich von der Prüfstrecke eine Beschleunigung der Forschung, vor allem bei Zukunftsthemen wie dem autonomen Fahren. So lassen sich Modelle künftig schneller auf den Markt bringen. Ziel ist aber auch, Erlkönige von der Straße zu bringen. Erprobungsfahrzeuge von Daimler waren in der Vergangenheit immer wieder in schwere Unfälle verwickelt.
Die Donauhalle leert sich – und nicht nur bei den Bürgern bleibt der Eindruck, dass selten ein Großprojekt in Deutschland in solcher Harmonie über die Bühne gegangen sein dürfte. Es ist wohl Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Mercedes-Händler am Ortseingang kurzfristig zu den Verlierern zählt. Noch stehen auf seinem Hof Militärlaster, die gewartet und repariert werden wollen.