Briefe aber auch Fotografien erinnern Dieter Böhrendt an seinen Vater Kurt. Foto: Böhrendt Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Feldpostbriefe von Kurt Böhrendt geben Einblicke ins Leben an der russischen Front 1942

Ein Soldat der Wehrmacht steht im Herbst 1942 vor Stalingrad. Es ist Kurt Böhrendt, Vater des heutigen Nagolders Dieter Böhrendt. Er schrieb fast täglich in die Heimat. 75 Jahre nach dem Ende der Schlacht holt sein Sohn die Briefe aus der Schublade.

Nagold. "Ich sitze im Erdloch, 1,60 Meter tief und ich habe meine Maschinenpistole geölt. Gestern setzte die Regenperiode mit Schnee ein. In meinem Loch stand das Wasser, aber drinnen bleiben musste ich, weil über meinem Kopf hinweg die MG-Schüsse zischten und Granatwerfer uns beschossen."

Es sind Zeilen aus einem Feldpostbrief, die den ganzen Horror an der Front im damaligen Stalingrad greifbar machen. Geschrieben am 20. Oktober 1942 von Kurt Böhrendt – mit Bleistift, im strengen russischen Winter, in fast aussichtsloser Lage.

Sein Sohn Dieter sitzt 75 Jahre nach dem Ende der Schlacht im Zweiten Weltkrieg am Tisch seiner Nagolder Wohnung und hat die Sammlung der rund 60 Briefe vor sich liegen. Vor zwei Jahren begann er damit, die Post seines Vaters zu sortieren und jeden Buchstaben abzutippen.

Leicht war die Konfrontation mit der Vergangenheit für Dieter Böhrendt nicht: "Während ich die alten Briefe sortiert habe, musste ich ab und zu weinen", gibt der in Danzig aufgewachsene Böhrendt zu, dass ihn das Schicksal des Vaters auch Jahrzehnte danach noch immer aufwühlt.

Der Vater wurde 1907 in Danzig geboren, besuchte als 20-Jähriger die Polizeischule und war bis zum Einzug an die Front am 24. August 1942 als Standesbeamter in seiner Heimatstadt tätig. Am 4. September ging es dann los in Richtung Osten – per Zug und zu Fuß. Der Kälte trotzend sieht Böhrendt, der der sechsten Armee um General Friedrich Paulus angehörte, also seiner "Feuertaufe an der Front" entgegen. Und die Briefe von ihm zeigen, dass die Soldaten damals trotz wochenlangen Strapazen immer an den "Endsieg" glaubten.

Selbst als er mit seinen Kameraden "unter Begleitmusik der Artillerie wie Ratten unter der Erde sitzt und wacht", schreibt er noch: "Strapazen und Schmerzen können den Glauben an den Sieg unserer guten Sache nicht erschüttern."

Auch wenn der damals 35-Jährige an Nierenschmerzen und hohem Fieber litt, hatte er immer noch die Heimat im Sinn, schrieb beispielsweise im Dezember 1942, ob sich die Familie zu Hause auch mit "Kohlen und Kartoffeln eingedeckt" habe. Sein Sohn schüttelt darüber auch noch über 70 Jahre danach ungläubig den Kopf: "Dass er in so einer Situation auch noch daran denkt."

Dann blättert Böhrendt weit nach hinten in seinem Aktenordner, ehe er beim letzten Brief seines Vaters vom 4. Januar 1943 angelangt. Darin berichtet er von einem "starken Husten, der sich eingestellt hat", und weiter: "Sonst heißt es hier: auf Posten sein."

Man möge sich doch keine Sorgen machen, schreibt er noch. Doch das ist die letzte Nachricht, die als Feldpostbrief aus Russland ankommt. Danach verliert sich die Spur von Kurt Böhrendt, Briefe in Richtung Front kommen als "unzustellbar" zurück. "Da war dann Funkstille. Man hat immer auf ein Lebenszeichen gehofft, aber es kam eben keines", schildert Dieter Böhrendt die Monate, in denen die traurige Gewissheit langsam Gestalt annahm.

Lange nachdem der Krieg zu Ende war, im September 1970, hatte das Deutsche Rote Kreuz seine Nachforschungen abgeschlossen und teilte den Böhrendts in einem Brief mit, was eigentlich lange klar war: "Für den Verschollenen konnte keine schicksalsklärende Auskunft erlangt werden, sodass kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass auch er zu den Opfern des ausweglosen Ringens um Stalingrad zu zählen ist."

Als Dieter Böhrendt die Nachricht des DRK an diesem Nachmittag nochmals liest, hält er kurz inne und schließt die Augen. Die Erinnerung ist nach wie vor da. Dann blickt er auf und meint: "Der größte Feind war damals das Wetter und die Kälte. Aber ich hatte stets den Eindruck, dass mein Vater keine Angst hatte, sondern gewartet hat, bis man Stalingrad einnehmen kann."

Das zeigen auch die 60 Briefe von Kurt Böhrendt. Er schrieb, um Halt zu finden und um die Angst aus dem 1,60 Meter tiefen Loch fernzuhalten.