Am kommenden Sonntag im Spitzenspiel gegen den FC 08 Homburg sitzt Mustafa Ünal zum 100. Mal bei einem Pflichtspiel der ersten Mannschaft der Stuttgarter Kickers auf der Trainerbank. Was bedeutet ihm die Zahl? Wie blickt er zurück und nach vorne?
Am 29. September 2021 saß Mustafa Ünal beim 2:0 in Villingen erstmals als Chefcoach der Stuttgarter Kickers auf der Bank. In bisher 99 Pflichtspielen feierte der 40-Jährige 75 Siege, bei 15 Unentschieden gab es nur neun Niederlagen. Vor dem Regionalliga-Heimspiel am Sonntag (14 Uhr) gegen den FC 08 Homburg äußert er sich.
Herr Ünal, dass Sie vor einem Jubiläum stehen, ist Ihnen bekannt?
Ja, wir haben mit Holger Zinser aus unserem Medienteam vergangene Woche darüber gesprochen.
Wissen Sie viele Niederlagen unter den 99 Pflichtspielen waren?
Puh, da muss ich raten. Zehn vielleicht?
Neun waren es nur. Was bedeuten Ihnen die Zahlen?
Dass ich jetzt vor dem 100. Spiel stehe, zeigt wie schnell die Zeit vergeht. Wenn man den hohen Trainerverschleiß sieht, den es auch schon bei den Kickers gab, macht es mich auch stolz, schon so lange für diesen tollen Verein arbeiten zu dürfen.
Welches Spiel ist Ihnen ganz besonders in Erinnerung?
Da gibt’s mehrere. Egal, wo ich noch landen werde, die Achterbahn der Gefühle in Dorfmerkingen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Der WFV-Pokal-Sieg gegen die Ulmer war extrem schön, das DFB-Pokal-Highlight gegen Eintracht Frankfurt ebenfalls, aber das krasseste war das Aufstiegsspiel bei Eintracht Trier.
Obwohl es ein Negativerlebnis war?
Ich weiß gar nicht, ob es im Nachhinein, trotz der großen Enttäuschung, so negativ war. Vielleicht wären wir vor einem Jahr gar nicht so gut in der Regionalliga zurecht gekommen wie jetzt. Man geht aus solchen Rückschlägen gestärkt hervor und lernt viel dazu.
„Man wird noch ehrgeiziger“
Was konkret?
Man wird noch ehrgeiziger, ruht sich nie aus, verfällt nie in einen Wohlfühlmodus, freut sich nie zu früh, geht gefasster mit unvorhergesehenen Dingen um und richtet den Blick immer nach vorne.
Wie zum Beispiel bei den Verlusten von Vertrauenspersonen in Ihrem Trainerteam?
Natürlich tut so ein Verlust immer erst einmal weh, ist aber im Fußballgeschäft nichts Ungewöhnliches. Ich war keine drei Wochen Cheftrainer, da zog es meinen damaligen Sportlichen Leiter nach Moskau. Lutz Siebrecht und mein Präsident Herr Lorz waren damals diejenigen, die mir dieses tolle Amt des Kickers-Cheftrainers ermöglicht haben. Meine Assistenten Yannick Dreyer und Jakob Braun gingen auch kurzfristig und unvorhergesehen. Sie nahmen Angebote an aus der ersten Liga oder aus einem Profi-NLZ – und das macht mich stolz.
Genauso wie jetzt die Tabellenführung nach 16 Spieltagen?
Schon die vergangene Oberligasaison mit 15 Punkten Vorsprung beendet zu haben, war nicht selbstverständlich. Das sieht man derzeit an der SG Sonnenhof Großaspach, die als einziges Team in der Oberliga unter Profibedingungen arbeitet und nicht Erster ist. Wir freuen uns aktuell, dass wir da stehen, wo wir stehen. Das ist auch zu 100 Prozent kein Zufall und hat nichts mit Glück oder irgendeiner Euphoriewelle zu tun.
Sondern mit Stabilität und Qualität?
In erster Linie hat es etwas mit Fleiß und harter Arbeit zu tun. Stabilität muss man sich erarbeiten, und Qualität ist auch schnell verloren, wenn man nicht bereit ist, jeden Tag aufs Neue an seine Grenzen zu gehen. Wir haben bisher auch Ausfälle gut weggesteckt, mussten vor allem in der Innenverteidigung viel improvisieren. Aber es ist eben nur eine Momentaufnahme. Alles ist so eng beieinander. Zwei Siege weniger und wir wären Achter, was mit Sicherheit für uns als Aufsteiger in dieser wahnsinnig ausgeglichenen Liga keine Schande wäre.
„Das ist kein Schlüsselspiel“
Wenn Sie jetzt am Sonntag auch noch das Spitzenspiel gegen den aufstrebenden FC 08 Homburg gewinnen, können Sie doch nicht mehr nur vom Ziel „sorgenfreie Saison“ reden.
Für uns als Team ist das kein Schlüsselspiel. Wir sehen vielmehr die fünf Spiele bis zur Winterpause. Da wollen wir weiterhin so viele Punkte wie möglich sammeln. Dann sehen wir, wo wir stehen, lassen alles mal sacken, analysieren und entscheiden, mit welchen Zielen wir ins neue Jahr gehen. Aber das ist für uns zweitrangig. Wir wollen als Mannschaft jedes Spiel gewinnen – egal, welches Ziel formuliert wird.
Sie betonen, dass die Mannschaft über allem steht. Ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl das größte Plus?
Dass wir eine verschworene, homogene Einheit sind, ist sicherlich ein wesentlicher Teil des Erfolges. Aber wenn sich die Spieler nicht der Gemeinschaft unterordnen und sich nicht weiterentwickeln, auch in taktischer Hinsicht, bekommst du Probleme. Da keiner wusste, was in dieser Liga als Aufsteiger auf uns zukommt, gab es natürlich schon auch Leute, die sich fragten, ob wir auch eine Liga höher mit der selben Intensität und so offensiv und angriffslustig auftreten können.
Und?
Diese Fragezeichen haben wir beseitigt. Unser Spiel, unsere Prinzipien und unsere Werte sind unabhängig vom Gegner und der Liga. Natürlich müssen wir immer wieder Anpassungen vornehmen, das ist aber heutzutage ganz normal. Der Respekt vor uns ist noch einmal gestiegen. Dafür sorgen natürlich auch unsere tollen Fans. Ob daheim oder auswärts – die Stimmung bei unseren Spielen ist einfach klasse.
Haben Sie persönlich sich verändert?
Was meine konsequente Linie betrifft, sicher nicht. Jeder Spieler weiß, was er darf und was er nicht darf. Jeder weiß, wo die Grenzen liegen. Innerhalb dieser Grenzen bekommen die Spieler selbstverständlich ihre Freiheiten. Ansonsten versuche natürlich auch ich mich, mit meinem Trainerteam zusammen, täglich zu verbessern.
„Es kann jeden treffen“
Kapitän Kevin Dicklhuber saß in den letzten beiden Pflichtspielen zunächst auf der Bank. Kann das Unruhe bringen?
Nein, weil es klar kommuniziert wurde und es jeden treffen kann, da es mit unserem Matchplan zu tun hatte. Egal welche Spieler wir aufstellen, die Entscheidung ist immer für die Mannschaft, und nie gegen einen Spieler. Wir stellen die Spieler auf, von denen wir uns in diesem Moment die größtmögliche Erfolgswahrscheinlichkeit versprechen. Das habe ich aber schon immer so gemacht, egal ob in der U 17, in der U 19 oder als Chefcoach der Regionalligaelf.
Werden es für Sie noch mal 100 weitere Spiele bei den Kickers?
Ich weiß ja nicht einmal, ob es 101 werden (lacht). In diesem schnelllebigen Geschäft bringt es nichts, sich solche Gedanken zu machen. Ich möchte einfach nur weiterhin der bestmögliche Trainer für diesen Verein sein.
Zur Person
Karriere
Mustafa Ünal wurde am 7. September 1983 in Laichingen geboren und wuchs in Wiesensteig (Kreis Göppingen) auf. Er spielte beim TSV Bad Boll und beim TSV Obere Fils und war dort auch Jugendtrainer. Von 2013 bis 2017 trainierte er Nachwuchsteams beim SSV Ulm 1846, ehe er ins Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) der Kickers wechselte. Dort führte er in der Saison 2020/21 die U 19 in die Bundesliga. Seit dem 27. September 2021 trainiert er als Chefcoach die Oberliga-Mannschaft. Sein Vertrag läuft bis 2025.
Persönliches
Ünal ist Lehrer an der Körschtalschule in Stuttgart-Plieningen für die Fächer Informatik, Wirtschaftslehre, Sport und Technik. Er unterrichtet an dieser Gemeinschaftsschule an dreieinhalb Tagen 13 Stunden in der Woche. Er wohnt mit seiner Familie in Stuttgart-Birkach, ist verheiratet mit Esra. Das Paar hat zwei Söhne – Ömer (drei Jahre) und Mert (zwei Jahre). (jüf)