Kinder und Jugendliche waren dem Missbrauch teils hilflos ausgesetzt. Foto: © artit - stock.adobe.com

Eine Untersuchung des Instituts für Praxisforschung und Praxisentwicklung München (IPP) beschäftigt sich mit Jahrzehnten zurückliegenden Missbrauchsvorwürfen in sozialtherapeutischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

„Ich wäre ja bereit gewesen, zu ihm ins Bett zu gehen, wenn ich bleiben darf und eine Ausbildung irgendwie machen kann. Er hat aber gesagt, pass mal auf, ich brauch’ dich nicht mehr“. So erinnert sich der Zeitzeuge an seinen verzweifelten Versuch, nach gescheiterten anderen Stationen zu seinem früheren Betreuer in eine Wohngruppe im Kreis Tübingen zurückzukehren.

Was er dann zu hören bekommt, ist ihm „nie aus dem Kopf gegangen“: „Einmal ziehst du bitte die Anzeige und das Ganze zurück, aber ich brauch’ dich nicht mehr, ich krieg’ mein Frischfleisch oder meine Ware inzwischen aus Berlin“.

Die Untersuchung wurde vom Tübinger Verein selbst in Auftrag gegeben

Dokumentiert ist diese Interviewpassage mit dem Zeitzeugen in dem jetzt öffentlich gewordenen Abschlussbericht des Instituts für Praxisforschung und Praxisentwicklung München (IPP) zu Jahrzehnten zurückliegenden Missbrauchsvorwürfen in sozialtherapeutischen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

Der vollständige Titel der Arbeit in der Verantwortung von Helga Dill lautet: „Pädagogische Nähe und mögliche sexuelle Grenzverletzungen beim Tübinger Verein für Sozialtherapie bei Kindern und Jugendlichen e.V. 1976 – 1982 – eine Aufarbeitungsstudie“. Die Untersuchung wurde vom Tübinger Verein selbst in Auftrag gegeben.

Sie handelt von den zumindest zwiespältigen Verhältnissen in Betreuungsgruppen für Kinder und Jugendliche, die sich in unterschiedlichen Problemlagen befanden.

Bonhoeffer modernisierte für den Berliner Senat das Heimkinderwesen

Rückblende: Nach wirren Pionierphasen war Martin Bonhoeffer von 1976 bis 1982 der erste Leiter dieser sozialtherapeutischen Wohngruppen. Bonhoeffer modernisierte für den Berliner Senat das Heimkinderwesen und war in kritischen und öffentlich bekannten Pädagogenkreisen gut verdrahtet.

Er wurde nach Tübingen geholt, wo er als Heimleiter zusammen mit seiner Mutter und Jugendlichen in einem der Häuser wohnte. Im Dezember 1982 erlitt er jedoch einen Herzinfarkt, von dem sich der Neffe des von den Nationalsozialisten ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer nicht wieder erholte.

Im Wach-Koma lebte er bis 5. April 1989 in Tübinger Kliniken. Nach seinem Tod 1989 benannte der Tübinger Verein – wie es heißt – „in Anerkennung seiner Leistungen in Tübingen, aber auch für sein bundesweites Engagement für eine Reform der Heimerziehung“ die Einrichtung nach Martin Bonhoeffer. 2018 entschied sich der Trägerverein für eine Umbenennung in „kit-jugendhilfe“.

Verbindungen zu Odenwaldschule?

Inzwischen waren Missbrauchsvorwürfe und Verbindungen zu den massenhaften Vorfällen sexueller Gewalt an der hessischen Odenwaldschule gemutmaßt worden. In seiner Interpretation des aktuellen IPP-Berichtes hält der Verein jetzt auch fest, dass Bonhoeffer schon während seiner Berliner Zeit Jugendliche an die Odenwaldschule und das Tätersystem um den mit ihm befreundeten Schulleiter Gerold Becker vermittelt hat.

Es sei davon auszugehen, „dass er auch entsprechende sexuelle Gewaltformen in Kauf genommen hat“. Eine verheerende Rolle spielen auch die unsäglichen sogenannten Kentler-Experimente.

Der Berliner Sozialpädagoge Helmut Kentler (1928–2008) gab als Wissenschaft aus, Kinder und Jugendliche an vorbestrafte Pädophile zu vermitteln. Der Sozialpädagoge wollte nachweisen, dass diese Männer sich als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern als andere Pflegeeltern. Medienberichten zufolge erhielten die Pädophilen sogar Pflegegeld.

Diese Praxis begann in Berlin Ende der 1960er-Jahre und wirkte sich – so die derzeitige Erkenntnis – bis Beginn der 2000er-Jahre aus. Wie viele Opfer es überhaupt gibt, ist nach Forscher-Aussagen unklar. Es dürfte sich um einen der größten und widerwärtigsten Skandale in der Bundesrepublik handeln. Zeitungen titelten von „Kindesmissbrauch in staatlicher Verantwortung“.

Netzwerk reicht weit über Berlin hinaus

Vor wenigen Wochen erst hat ein Projektteam der Universität Hildesheim einen Zwischenbericht dazu vorgelegt. Darin heißt es, dass „ein Netzwerk von Akteuren und Akteurinnen existierte, das direkt oder indirekt Konstellationen mit geschaffen hat, durch die sexualisierte Übergriffe ermöglicht wurden.“

Dies reiche über Berlin hinaus. So ließen sich „zum Beispiel Unterbringungen in den Martin-Bonhoeffer-Häusern in Tübingen (…) nachweisen“, schreiben die Hildesheimer.

Geschildert wird der Fall eines Zwölfjährigen

In der aktuellen Aufarbeitungsstudie des IPP München werden nun Fallakten und Dokumente über die Vermittlung von Jugendlichen aus Berlin an den Neckar erwähnt. Geschildert wird der Fall eines Nick genannten Jungen. Er gilt als „aggressiver Streuner mit Prostitutions- und Drogenerfahrung“.

Als Zwölfjähriger kommt er nach Tübingen und wird zu Besuchen, Ausflügen und Übernachtungen einer fragwürdigen Bezugsperson anvertraut. In der vom Tübinger Verein für die beiden eingerichteten Wohnung gibt es nur ein Bett für Nick und den Pflegevater.

Ein im Grunde eigenes Kapitel in der Vereinsgeschichte sind die Vorgängereinrichtungen. In Bodelshausen gründeten Anfang der 1970er-Jahre Studierende und andere junge Leute Wohnprojekte, die belasteten Jugendlichen Chancen eröffnen sollten – auch als Gegenmodell zu restriktiver Fürsorgeerziehung und Psychiatrie. Weitere Gruppen auch in anderen Orten kamen hinzu. Doch die Projekte stoßen offenbar früh an ihre Grenzen.

Drogen spielen eine Rolle

Teilweise wird die Entwicklung als chaotisch beschrieben, Drogen spielen eine Rolle. Wegen sexueller Gewalt kommt es zur Verurteilung. Erst die Überführung in die Tübinger Vereinsstrukturen schafft dann eine neue Basis.

Den jetzt vorgelegten IPP-Abschlussbericht will das Kuratorium des Vereins nach eigener Darstellung zur Neubewertung der eigenen Geschichte sowie zur Transparenz nach innen und außen nutzen.

In seinem Statement hält das Kuratorium fest, dass sich die Frage nach manifesten Übergriffen durch Martin Bonhoeffer selbst durch die IPP-Ergebnisse „nicht erhärtet hat“. Sexualisierte Gewalt könne ihm selbst nicht nachgewiesen werden. Er habe diese aber geduldet oder gar befördert.

Neue Einordnung zu Mitwisser- und Mittäterschaft

Zur Thematik der Mitwisser- und Mittäterschaft am „System Kentler“ und am Netzwerk um Gerold Becker (Odenwaldschule) ergibt die Studie neue Einordnungen. Und weiter zu beleuchten bleibt, inwieweit damals vorherrschende reformpädagogische Impulse möglicherweise sexuelle Übergriffe begünstigt haben.

Keine Frage (mehr) indes ist für die kit-Jugendhilfe: „In der Geschichte des Vereins haben einzelne Jugendliche sexuellen Missbrauch und damit großes Leid erfahren. Wir nehmen das Leid der Betroffenen sehr ernst, bedauern und missbilligen, was den Jugendlichen widerfahren ist“.