Martin Stengel und seine Familie vor dem alten Gasthaus Lamm in Meßstetten. Nach der Erschießung des Lammwirts und des Altbürgermeisters feuerten die Mörder zwei Panzerfäuste auf das Haus ab. Die eine traf das Wohnzimmer, die andere verwüstete das Schlafzimmer. Leicht verletzt wurde eine Person.Foto: Archiv Foto: Schwarzwälder Bote

Historie: Vor 75 Jahren ermordeten Nazis den Meßstetter Lammwirt Martin Stengel und Alt-Bürgermeister Friedrich Maier

Auf den Tag genau 75 Jahre ist es her, an dem Meßstetten den dunkelsten Tag der neueren Geschichte erlebte. Die Nazis erschossen standrechtlich zwei unschuldige Bürger.

Meßstetten. Was geschah am 21. April 1945 in Meßstetten? Am Vormittag hatte das deutsche Militär das Dorf verlassen, um die Mittagszeit auch der Nazi-Bürgermeister Willi Abel zusammen mit dem Balinger Kreisleiter Oskar Uhland fluchtartig das Weite gesucht. Um 14 Uhr traf ein französischer Panzerspähwagen aus Richtung Hossingen ein. Auch französische Panzer drangen, aus Unterdigisheim kommend, in Meßstetten ein, aber nur, um gleich in Richtung Hartheim und Donautal abzudrehen – Meßstetten lag abseits ihrer Aufmarschlinie. Die Dorfbewohner nahmen das Erscheinen der Franzosen jedoch als Signal, Bettlaken aus dem Fenstern zu hängen, sprich: als Zeichen der Kapitulation die weiße Fahne zu hissen.

Die Rache der Nazis folgte auf dem Fuß. Am Abend gegen 21.30 Uhr erschienen vermummte Bewaffnete und statuierten ein Exempel. Sie erschossen Alt-Bürgermeister Friedrich Maier und den "Lammwirt" Martin Stengel. "Das Meßstetter Standgericht ist in den vergangenen Jahren weitgehend in Vergessenheit im Ort geraten", stellt Heinz Roth, der Vorsitzende des örtlichen Heimat- und Geschichtsvereins fest. Zeitzeugen gibt es natürlich kaum noch, wohl aber Nachfahren derer, die dieses Standgericht seinerzeit das Leben gekostet hatte.

Noch Anfang April hatten die Nationalsozialisten beabsichtigt, am Albrand eine neue Verteidigungsstellung gegen die heranrückenden Franzosen zu beziehen. Der Plan, die gesamte Bevölkerung aus den Albgemeinden zu evakuieren, wurde zwar rasch fallengelassen, die entsprechenden Befehle zurückgenommen; die Durchhalteparolen "Jedes Haus eine Festung, jeder Mann ein Werwolf" blieben jedoch im Umlauf und nisteten sich in manchen Köpfen ein.

Die Franzosen tauchten nur kurz auf – aber sie blieben nicht

Kreisleiter Oskar Uhland, der am 20. April nach der kampflosen Aufgabe Balingens nach Meßstetten geflüchtet war, hatte die Absicht, den versäumten Kampf bis zum letzten Mann auf dem Heuberg nachzuholen. Die Männer des Meßstetten Volkssturms wurden von seinen Männern mit vorgehaltenen Pistolen gezwungen, die Panzersperren auf den Straßen nach Lautlingen, Hossingen und Unterdigisheim zu errichten und die Straßen durch Sprengung unpassierbar zu machen. Die Verteidigungspläne schlugen fehl, denn das Pulver explodierte zwar, aber es riss keine Löcher in die Straßenbeläge.

Am Morgen des 21. April erkannte Uhland, dass aus dem Heldenkampf nichts wird. Die Truppen zogen in der Nacht zum Samstag nach Süden ab; der Generalstab räumte am Samstagmittag sein Hauptquartier, das er zwei Tage zuvor im "Schwanen" aufgeschlagen hatte. Die Meßstetter blieben zurück und erwarteten die Franzosen. Die kamen zwar, blieben aber nicht, sondern ließen Meßstetten – buchstäblich – links liegen. Ihr Ziel war Sigmaringen, letzter Amtssitz der von den Nazis eingesetzten französischen Vichy-Regierung.

Am Abend waren die Nazis wieder da. Oskar Riegraf, der auf dem Truppenübungsplatz das "Freikorps Adolf Hitler" aufstellte, hatte von den weißen Fahnen erfahren und kam mit einigen Untergebenen nach Meßstetten, wo er zuerst einmal seine in der Hangergasse wohnende Familie in Sicherheit brachte. Kurz darauf erschienen zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Uniformierte im Rathaus und forderten die wachhabenden Volkssturmmänner auf, den Altbürgermeister und die Gemeinderäte zu holen. Friedrich Maier, die Gemeinderäte Gustav Bosch und Martin Stengel sowie 14 weitere Bürger wurden ins Amtszimmer des Bürgemeisters gebracht, wo sie von drei vermummten und bewaffneten Männern erwartet wurden. Riegraf, der Anführer, wollte wissen, wer die weiße Flagge gehisst habe. Die Frauen seien es gewesen, antwortete Stengel, der "Lammwirt", er selbst habe die Laken aber gleich wieder entfernt. Die Antwort half dem 68-Jährigen nichts; Riegraf schoss ihn augenblicklich nieder. Anschließend wandte er sich an Altbürgermeister Friedrich Maier. Der erhielt zwei Minuten Bedenkzeit, erklärte dann, er wisse von nichts, und wurde darauf vor die Rathaustür geführt und von Begleitern Riegrafs mit mehreren Bauchschüssen liquidiert.

Dann zwangen die Freischärler den Gendarmen Johann Geog Narr, ihnen das Gasthaus "Lamm" und das Haus des Friseurs Gerstenecker, der ebenfalls der Rädelsführerschaft bezichtigt wurde, zu zeigen und feuerten zwei Panzerfäuste aufs "Lamm" ab. Stengels Schwiegersohn wurde durch einen Splitter leicht verletzt, seine Frau und der einjährige Sohn kamen mit dem Schrecken davon. Gendarm Narr ergriff die Flucht, blieb, obwohl auf ihn geschossen wurde, unverletzt und versteckte sich eine Nacht lang im Wald. Drei Tage später, am 24. April, besetzten die Franzosen Meßstetten.

Die Morde der Nazis gerieten viele Jahre lang in Vergessenheit

Die Morde der Nazis waren in den vergangenen Jahren beinahe in Vergessenheit geraten – Bürgermeister Frank Schroft etwa war die Geschichte unbekannt. Im vergangenen Herbst initiierte der Heimat- und Geschichtsverein einen Vortrag des Nürtingers Manuel Werner zum Doppelmord, der auf großes Interesse stieß. "Vor allem im Nachgang haben sich viele gemeldet", berichtet Heinz Roth. "Wir wollen diese dunkle Stunde Meßstettens nicht totschweigen, sondern ins Bewusstsein der Bevölkerung zurückbringen."

Aus diesem Grund will der Verein nun ein Mahnmal zum Standgericht zu errichten. Mit im Boot sind zwei Enkel von Martin Stengel sowie die Tochter Friedrich Maiers und einige seiner Enkel. Es hätten bereits Gespräche mit der Stadt stattgefunden, berichtet Roth, auch mit Kreisarchivar Andreas Zekorn stehe man in Kontakt, und der Bürgermeister zeige sich offen für die Idee. Freilich liegen die Pläne derzeit coronabedingt Eis, bis wieder Treffen möglich sind. Denn neben der Beschaffenheit des Mahnmals muss auch noch der Standort geklärt werden. Das letzte Wort hat die Stadt.

Das Grab der beiden Ermordeten, die nebeneinander beigesetzt wurden, existiert laut Roth nicht mehr. Die Namen Stengel und Maier werden aber auf der Gefallenentafel auf dem Friedhof genannt.

Meßstetten. Der Mann, der am 21. April 1945 den Meßstetter Lammwirt Martin Stengel erschoss und anschließend Alt-Bürgermeister Friedrich Maier liquidieren ließ, hieß Oskar Riegraf. Der gebürtige Fellbacher war im April 1945 33 Jahre alt und Anführer eines auf dem Truppenübungsplatz Heuberg stationierten "Freikorps Adolf Hitler". Der fanatische Nazi war bereits 1930 mit 19 Jahren der NSDAP beigetreten; später studierte er am Tübinger Stift evangelische Theologie, wurde Oberbannführer der Hitlerjugend und Stadtrat in Nürtingen und nach Kriegsbeginn 1939 Soldat. Nach 1943 war er für die NSDAP-Kreisleitung in Ulm und die Gauleitung in Stuttgart tätig; im Januar 1945 wurde er zum Kreisleiter von Schwäbisch Hall. Den Posten konnte er jedoch nicht mehr antreten, weil die Amerikaner nahten; stattdessen ging er auf den Heuberg, um dort das Freikorps aufzustellen.

Oskar Riegraf ist für den Mord an Stengel und Maier nie zur Rechenschaft gezogen worden. Zwar war er vom Juli 1945 bis Juni 1947 in amerikanischem Gewahrsam, aber nicht wegen der Meßstetter Bluttaten.

Erst 1947 sollte ihm der Prozess gemacht werden; am 2. Juni fuhr der Hechinger Polizeimeister Federer nach Karlsruhe, wo sich Riegraf im "Internierten-Krankenhaus Nr. 2" befand, um ihn in die französische Besatzungszone mitzunehmen. Federer kehrte, da ihm ein Genehmigungsbescheid der amerikanischen Militärregierung fehlte, unverrichteter Dinge nach He-chingen zurück, doch durch seinen Besuch war Riegraf gewarnt und machte sich aus dem Staub. Er floh über die sogenannte "Rattenlinie Nord" nach Kanada und ließ später seine Familie nachkommen. Er ist nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt.