Auf dem Weg zurück zu alter Stärke: Eine seiner Trainingsstrecken führt Marathonläufer Arne Gabius an der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim vorbei. Foto: dpa

Arne Gabius ist der beste deutsche Marathonläufer. Nach einer langwierigen Verletzung arbeitet der Athlet aus Stuttgart-Stammheim derzeit an seinem Comeback – und setzt sich hohe Ziele.

Hallo Herr Gabius, Sie kommen gerade vom Training. Wie lief es?
Bestens.
Sie haben im Sindelfinger Glaspalast zehn 400-Meter-Läufe in einer Zeit zwischen 66 und 68 Sekunden absolviert. War das nicht hart?
Doch. Aber auch irgendwie schön. Auf dieses Gefühl nach Tempoläufen habe ich sechs Monate gewartet und gehofft – und deshalb heute genossen.
Das heißt, dass Sie wieder völlig fit sind?
Nein, aber ich bin auf einem guten Weg.
Sie sind Deutschlands bester Marathonläufer, haben aber wegen eines Ödems am Schambein die Olympischen Spiele im August verpasst und mussten mehr als fünf Monate pausieren. War eine so lange Auszeit notwendig?
Absolut. Marco Reus hatte auch eine Schambeinentzündung, war ähnlich lange außer Gefecht. Ihm wurde von Borussia Dortmund die Pause gewährt, ich musste sie mir selbst verordnen. Mein Körper hat mir keine andere Wahl gelassen. Das Schambein ist eine Schwachstelle, unter der viele Läufer zu leiden haben. Und es gibt außer Ruhe wenige Therapiemöglichkeiten.
Wann sind Sie erstmals wieder gelaufen?
Am ersten Weihnachtsfeiertag. Mit einem Schnitt von sechs Minuten pro Kilometer. Wichtig war nur, dass nichts mehr weh tut.
Und?
Es hat nichts weh getan. Folglich konnte ich die Belastung seither immer weiter steigern. Mittlerweile bin ich wieder bei mehr als 150 Kilometern pro Woche, dazu kommen Tempoläufe, Krafttraining, Stabilisationsübungen. Und ich habe einen Flug gebucht: Am 7. Februar geht es ins Trainingslager nach Kenia. Ich muss jetzt wieder richtig schnell und lange laufen – das geht nicht bei Eis, Schnee und Kälte.
Warum Kenia?
Die Wetterlage ist stabil, die Temperatur bei 23 bis 26 Grad sehr angenehm. Dort lebt mein italienischer Coach Renato Canova, es gibt Trainingsgruppen mit bis zu 150 Athleten, und das in einer Höhe von 2400 Metern, einfach ideal.
Mit welchem Ziel fliegen Sie nach Afrika?
Ich will am 9. April beim Marathon in Hannover starten.
Reicht die Zeit zur Vorbereitung?
Nicht, um eine Form zu haben wie im Oktober 2015 bei meinem deutschen Rekord von 2:08,33 Stunden. Aber das verlange ich auch nicht von mir. Ich will in Hannover die Norm für die WM 2017 in London laufen, diese liegt bei 2:13 Stunden. Und ich will meinen Rhythmus finden, wieder ein Gefühl für den Wettkampf bekommen.

Beim Olympia-Marathon saß Gabius vor dem Fernseher

Sie mussten 2016 den Marathon in London und den EM-Halbmarathon in Amsterdam abbrechen, Olympia in Rio fand ohne Sie statt. Wie haben Sie diese Enttäuschung verkraftet?
Auch wenn es weh getan hat: Ich musste mir den olympischen Marathon im Fernsehen anschauen, um ihn abhaken zu können. Wenn ich fit gewesen wäre, hätte ich auf jeden Fall unter die besten zehn laufen können. Aber das ist Geschichte. Fast noch mehr geärgert habe ich mich, dass ich den folgenden Marathon in New York absagen musste.
Warum?
Weil ich eine sehr gute Chance gehabt hätte, aufs Podium zu kommen.
Und gut zu verdienen?
Auch.
Wie viel Geld haben Sie 2016 verloren?
Ich bin selbstständig. Wenn ich Antritts-, Preis- und Sponsoren-Gelder zusammenrechne, komme ich auf rund 100 000 Euro. Mindestens. Leider gibt es gegen Verletzungen keine Versicherung.
Hilft die Sportförderung in Deutschland?
(lächelt gequält) Das ist nicht mehr als eine kleine Kostenübernahme und deckt nur einen Teil meiner Ausgaben für Trainingslager oder Physiotherapie ab. Wer in Deutschland vorankommen will, der muss sich selbst auf den Weg machen. Die Triathleten sind da ein ganz gutes Vorbild für mich.
Meisterinnen der Selbstvermarktung sind die Zwillinge Anna und Lisa Hahner – beim Olympia-Marathon liefen sie erst hinterher und dann lächelnd Hand in Hand ins Ziel. Was haben Sie in diesem Moment gedacht?
Ich war zwiegespalten. Einerseits ist diese PR-Show eine Frechheit gewesen, mit der sich die beiden selbst geschadet haben.
Und andererseits?
Sind die Hahners zum Laufsport gekommen, weil sie durch Joey Kelly inspiriert wurden. Und sie haben es bis zu den Olympischen Spielen geschafft. Wenn sich nun durch ihre Geschichte andere inspirieren lassen, wäre das toll für den Laufsport.

Fernziel von Gabius sind die Olympischen Spiele 2020 in Tokio

Wie sind Ihre Perspektiven im Marathon?
Mein Fernziel sind die Olympischen Spiele in Tokio 2020.
Dann sind Sie . . .
. . . 39 Jahre alt, ich weiß. Aber das ist im Marathonlauf kein Problem, zumal ich in keinster Weise verschlissen bin und von meiner nun überstandenen Verletzung sogar noch profitieren werde.
Inwiefern?
Ich habe mich in dem halben Jahr Pause komplett erholt und ein Problem, mit dem sich mein Körper nun wohl schon acht Jahre mehr oder weniger beschäftigt, hinter mir gelassen. Dazu habe ich ein ganz anderes Körperbewusstsein entwickelt. Das alles könnte einen richtigen Leistungssprung bewirken.
In welchen Bereich?
Schon bei meinem deutschen Rekord hatte ich das Potenzial, eine Minute schneller zu sein. Wenn ich als Ex-Bahnläufer mehr Erfahrung im Marathon gesammelt habe und es schaffe, meine Schnelligkeit zu behalten, sehe ich keinen Grund, warum eine Zeit von 2:06 Stunden nicht möglich sein sollte.
So schnell war noch nie ein Europäer.
Stimmt. Aber ich war ja auch schon 2015 die Nummer eins in der europäischen Bestenliste. Und ich habe im Sport gelernt: Wer Großes erreichen will, der muss groß denken. Nur wer einen Traum hat, der kann diesen auch realisieren.
Ist diese Denkweise so außergewöhnlich?
In Deutschland schon. Mich stört die Zurückhaltung, mit der wir hier ständig unterwegs sind. Ein Leistungssportler muss an sich glauben, er muss sich etwas zutrauen. Die Psyche kann die ein oder andere Trainingseinheit ersetzen.
Wo liegen Ihre Grenzen?
Das weiß ich nicht. Aber ich werde versuchen, sie auszutesten.
Wo liegen die Grenzen im Marathon?
Aktuell steht der Weltrekord des Kenianers Dennis Kipruto Kimetto bei 2:02,57, gelaufen 2014 in Berlin. Ich weiß nicht, wo und wann, vielleicht erst in 20 oder 30 Jahren – aber ich glaube, dass eine Zeit von unter zwei Stunden möglich ist.
Sauber?
Sauber!
Es gibt Experten, die zweifeln schon jede Zeit unter 2:05 Stunden an.
Natürlich muss im Anti- Doping-Kampf viel mehr passieren. Für Äthiopien zum Beispiel gilt: Wo nicht kontrolliert wird, kann auch nichts gefunden werden. Und auch Kenia ist sehr korrupt. Da wird ganz offen Polizisten Geld zugesteckt, und auch die Doping-Kontrolleure sind in der Szene bestens bekannt. Es sind sicher nicht alle sauber. Allerdings habe ich nicht die Überzeugung, dass jeder kenianische Top-Athlet nur zu Hause in seiner Hütte sitzt und sich Epo spritzt.
Wie sieht die Realität aus?
Es ist schwierig, in einem so korrupten System wie in Kenia Doping zu bekämpfen. Deshalb braucht es Kontrolleure von außen, intelligente Tests, ein unabhängiges Doping-Labor in Nairobi. Und man muss endlich beginnen, Grundlagen zu schaffen: Dazu gehört, die Athleten zu registrieren, Ärzte fortzubilden, Listen mit verbotenen Medikamenten zu veröffentlichen. Obwohl dies alles fehlt, bin ich der Meinung, dass heute auch nicht mehr gedopt wird als zu den Epo-Hochzeiten in den 90er-Jahren. Es wird nur mehr aufgedeckt.

Gabius hätte die russischen Athleten von den Spielen in Rio ausgeschlossen

Was ist mit Russland?
Der Sport wurde von den Russen betrogen – und er hat es sich gefallen lassen. Nur die Leichtathleten haben einen Bann verhängt, und aus meiner Sicht gibt es aktuell keinen Grund, diesen Bann wieder aufzuheben.
Wie ist die Lage in den anderen Sportarten?
Die Russen hätten von den Olympischen Spielen 2016 ausgeschlossen werden müssen. Komplett, nicht nur in der Leichtathletik. Eines hat mich vor Rio aber auch noch gestört.
Was?
Die Reaktion der anderen Athleten. Sie hätten ihre Stimme erheben müssen, Alarm schlagen, sich wehren. Die Athleten sind in diesem ganzen System eine Macht. Doch sie nützen diese Stärke viel zu wenig.
Was muss im Kampf gegen Doping noch passieren?
Die Welt-Anti-Doping-Agentur benötigt mehr Geld – ohne dass daran Bedingungen geknüpft oder damit Abhängigkeiten verbunden sind. Aktuell wird die Wada zu einem großen Teil von den Steuerzahlern in den USA finanziert. Das kann nicht sein.
Der Etat der Wada liegt derzeit bei rund 30 Millionen Euro pro Jahr . . .
. . . nötig wären bestimmt 300 Millionen Euro.
Wo soll das Geld herkommen?
Ich würde die Länder beteiligen, abhängig von ihrem sportlichen Erfolg. Wer im Olympia-Medaillenspiegel vorne liegt, zahlt zehn Millionen Euro, der Zehnte noch eine Million. Das wäre doch ein tolles Zeichen: Je erfolgreicher eine Nation ist, umso mehr finanziert sie den Kampf gegen Doping.
Und dann?
Ich bin der Überzeugung, dass Doping bekämpft werden kann – wenn der Wille vorhanden und genug Geld da ist.
Wie?
Viele Medikamente sind vergleichsweise leicht zu finden, also würden mehr Kontrollen helfen. Dazu müsste man wesentlich mehr Geld in die Forschung und Entwicklung neuer Testverfahren stecken, der Blutpass müsste viel mehr gepflegt werden. Man sollte die Labore besser überwachen und harte Sanktionen aussprechen, wenn die Nationalen Anti-Doping-Agenturen ihren Job nicht richtig machen. Passiert das alles, sind wir nicht nur einen Schritt weiter.