„Lost Places“ haben oft etwas Mystisches an sich. Foto: Pixabay/Tama66

Lange blieb die Szene unter sich, hielt Adressen von Objekten geheim. Nicht zuletzt, um diese vor Vandalismus zu schützen. Nun geistert – für jeden aufrufbar – eine „Lost Places“-Karte durch das Internet.

Ob verlassenes Herrenhaus, überwucherte Waldhütte, angebliche Spukhotels oder leerstehende Fabrikhallen, ja sogar ganze Städte: Sogenannte „Lost Places“ erlauben einen besonderen Blick in die Vergangenheit und versprühen dabei einen ganz eigenen Charme. Diesem sind Benjamin Seyfang und Jasmin Seidel, selbstständige Fotografen aus Baden-Württemberg, schon vor langer Zeit verfallen. Wir haben mit den beiden Fotografen über ihre Faszination für „Lost Places“ und ihre Einstellung zu der „Lost Places“-Karte gesprochen.

Als „Urbexer“ bezeichnet man Menschen, die sich aktiv mit „Urban Exploration“, also mit der Erkundung von meist verlassenen Orten beschäftigen. Benjamin Seyfang ist schon lange dabei. Fotografie begleite ihn schon immer, da er stets eine Kamera dabei hatte und alles dokumentierte, erzählt er unserer Redaktion. Als Sprayer sei er dann auch zu Abrissgebäuden gekommen, welche teils länger leer gestanden hätten. Diese habe er kurz vor dem Abriss mit offizieller Erlaubnis besprüht. Fasziniert von den Hinterlassenschaften im Gebäude, die niemanden mehr zu interessieren schienen, habe er nicht nur von seinen Werken Fotos gemacht, sondern auch von den Gebäuden selbst – außen und innen.

Fotografie als „Archäologie der Neuzeit“

Krankenbetten in einem Altenheim, Weinflaschen in einem ehemaligen Hotel, beinahe gänzlich überwucherte alte Autos im Wald. Die Kombination aus Fotografie und verlassenen Orten sei für ihn „ein Match“ gewesen. Faszinierend sei vor allem das Zurückgelassene und zum anderen, wie schnell und intensiv die Natur sich den Raum zurück erobere. „Zudem ist mir der Erforscherdrang aus meiner Kindheit geblieben und ich nenne meine Fotografie gerne Archäologie der Neuzeit“, erklärt der 35-Jährige. Immerhin gehe man bei diesem Hobby auch auf Spurensuche. „Wer hat hier einst gearbeitet oder gewohnt? Warum steht etwas leer oder wie muss es hier einst ausgesehen haben?“ All diese Fragen seien für ihn von Interesse.

Gruselig findet er diese verlassenen, teils dunklen Orte nicht – dabei ist er oft allein unterwegs. „Klar, man hat schon viele Horrorfilme gesehen. Aber die Faszination und der Forscherdrang überwiegen das Gruselgefühl.“

Seyfang hat in bereits 20 Ländern fotografiert

Aktuell komme er nur etwa ein bis zwei Mal im Monat auf Fototour, nutze aber jeden Urlaub für die Möglichkeit, einen verlassenen Ort zu besuchen. So seien insgesamt schon 20 verschiedene Länder zusammengekommen. In der Anfangszeit habe es aber kaum eine Woche gegeben, in welcher er nicht unterwegs gewesen sei. Unter seinen Top drei Lieblingsorten liegen das Auto im Moos, welches auch das Cover seines ersten Buches ziert, die in der Szene bekannte Arztvilla „Doktor Anna L“ in Hessen und „Cavern of the Lost Souls“ in England.

Mittlerweile hat der Fotograf ein geschultes Auge in Sachen Lost Places. Neue und spannende Orte zu finden sei nicht so einfach und erfordere viel Recherchearbeit. „Ich suche gezielt in Zeitungen nach Artikeln über Leerstand und nutze Suchmaschinen oder die Satellitenansicht von Karten.“ Manchmal entdecke er auch selbst auf Tour spannende Orte. „Wird es spezifischer, wie Bergbau oder Bunkeranlagen, besuche ich auch gezielt Archive oder kaufe mir Lektüren“, führt Seyfang aus.

Zu der „Urbex-Elite“-Karte hat der „Lost Place“- Liebhaber eine klare Meinung. „Die Karte ist natürlich super für jeden, der in das Thema einsteigen möchte, da er hier direkt die Orte sehen und abfahren kann.“ Doch sei der Frust schnell hoch, wenn von zehn angefahrenen Plätzen nur noch einer stehe oder überhaupt interessant ist. Die Karte zeige nämlich nicht die Aktualität des markierten Ortes an. „Manche Gebäude sind restauriert, neu bewohnt oder auch einfach gefährlich“, erklärt Seyfang. „Außerdem werden durch so eine Karte nicht nur Fotografen auf die Orte aufmerksam, sondern auch Diebe, Vandalen und Sprayer. Gebäude werden aufgebrochen, mutwillig zerstört und die Besitzer haben kaum noch eine Chance, ihr Eigentum zu schützen.“

Klarer Tipp des Experten: Sich im Vorfeld informieren, ob die Orte noch leer stehen und ob man die Grundstücke überhaupt betreten darf. Denn zumindest in Deutschland gehört jedes Gebäude jemandem – unbefugtes Betreten ist Hausfriedensbruch und damit strafbar. „Auch sonst birgt dieses Hobby viele Gefahren, wie einsturzgefährdete Gebäude oder Gase in unterirdischen Anlagen. Durch so eine Karte wird aber vermittelt, dass jeder diese Orte einfach so besuchen kann.“

„Lost Places“ sind für Jasmin Seidel ein „fotografisches Paradies“

Jasmin Seidel kam ebenfalls durch Zufall zu ihrer Faszination für Lost Places. Auf Facebook habe sie von einem Fotoworkshop im „Hotel Waldlust“ in Freudenstadt erfahren – einem der bekanntesten Lost Places Deutschlands. Sie habe sich also spontan angemeldet. Vor Ort wurde ihr dann schnell klar: „Das ist meine Sparte der Fotografie“. Diese Orte seien für sie wie eine Zeitkapsel , eine vergessene Welt, die ganze Geschichten in Stille erzählt. „Ein fotografisches Paradies“, wie Seidel es nennt. „Manchmal liegen die Orte nur wenige Meter von einer Straße entfernt, und manchmal muss man sich wirklich durch Dornenhecken und Gestrüpp kämpfen.“ Lohnen würde sich der Weg aber allemal. So wie es auch Seyfang beeindruckt, fasziniere auch Seidel die Tatsache, wie sich die Natur zurückholt, was der Mensch geschaffen hat. „Diese Orte mit ihrer Atmosphäre, ihren Kontrasten von Licht und Schatten haben eine magische Anziehungskraft auf mich. Und meine Fotos sollen Geschichten erzählen.“

Zu ihren Lieblingsorten zähle ein Bauernhof im Schwarzwald, bei dem alles noch so gewesen war , wie die ehemalige Bewohnerin ihn zurückgelassen habe. Außerdem habe ihr ein Schloss in Frankreich sehr gefallen, in welchem sich eine „traumhafte“ Bibliothek und eine kleine Kapelle befand.

Obwohl sie nicht an Geister glaubt, sei es doch an manchen Orten manchmal unheimlich. „Meine größte Angst ist, die Leiche eines Menschen zu finden, so wie es erst zwei Fotografen in der Nähe von Leipzig erging.“ Es habe schon Orte gegeben, die von außen überhaupt nicht gruselig gewirkt haben und dann aber doch so ein komisches Gefühl bei der Fotografin auslösten, dass sie nur noch schnell ihre Bilder machen und verschwinden wollte.

Seidel genießt den Kontakt zu anderen „Urbexern“

Neue Orte finde sie durch Recherche, Aufmerksamkeit in der Natur, Zeitung lesen und durch Kontakt zu anderen Urbexern. Man baue sich mit der Zeit ein kleines Netzwerk auf. „Ich genieße die Zeit, wenn man zusammen im Auto sitzt und gemeinsam Orte erkundet. Man vertraut und hilft sich gegenseitig.“ Viele Orte, die sie offiziell besuchen konnte, habe sie aber durch Zeitungsberichte gefunden. Denn im Artikel stehe auch meistens der Besitzer mit seinen Kontaktdaten.

„Menschen wollen keine Zeit mehr investieren“

Von der „Urbex-Elite“-Karte sei sie, wie Seyfang auch, keine Freundin. Und das aus ganz ähnlichen Gründen. „Natürlich hilft sie jemanden, der neu in dem Gebiet ist. Aber gerade die Recherche und das Suchen und Entdecken gehört für mich zu diesem Hobby dazu.“ Die Freude über endlich gefundene Orte sei unbeschreiblich. „Die Menschen wollen einfach keine Zeit investieren. Es geht nur noch darum, schnell ein Foto für Social Media zu haben.“ Wie Seyfang auch weist die hauptberufliche Arzthelferin auf das erhöhte Risiko von Sprayern und Dieben hin. Manche Gegenstände aus besuchten Gebäuden seien irgendwann plötzlich auf Kleinanzeigen zu finden. „Es hat wirklich schon Leute gegeben, die versucht haben, die Tiefkühltruhe mit dem Polizeisiegel aus dem Haus des Kannibalen von Rothenburg zu verkaufen.“ Das sei nur ein Grund, warum unter „Urbexern“ das höchste Gebot ist, die gefundenen Orte zu schützen. Daher gebe man generell keine Adressen weiter. Denn wenn ein Ort öffentlich gemacht und dann nach kurzer Zeit verwüstet ist, mache das viele traurig. Das passiere durch öffentliche Karten leider öfter – auch Brandstiftung sei manchmal der Fall. „Man kann sagen, dass man nur noch eine kurze Zeitspanne hat zum Fotografieren eines Ortes, sobald dieser erstmal auf einer Karte erschienen ist. Denn schnell fallen die Plätze der Verwüstung zum Opfer.

Jedes Foto hat eine Geschichte, die es zu entdecken gilt

„Ich möchte immer so viel wie möglich über den Ort wissen. Wer hat hier gelebt, gearbeitet, gefeiert, gelacht und geweint? Warum wurde der Ort verlassen?“ Fragen, die sich Seyfang wie viele andere Urbexer auch stellt. Seidel wolle die Fotos mit Respekt machen und so dem Ort seine Würde zurückgeben, die er möglicherweise durch den Verfall auch verloren habe. Hinter jedem Foto stecke eine Geschichte – und diese wollen Seyfang und Seidel durch ihre Kunstwerke weiter erzählen. Ganz ohne Karten und mit einem Hauch von Mystik dahinter.