Solveigh kann heute dank teurer "Tübinger Platte" normal atmen

Von Julia Klebitz

Alles ist gut gegangen. Die Schwangerschaft verlief normal. Auch während der Geburt gab es keine Komplikationen. Als die Hebamme die kleine Solveigh im Kreißsaal in Freudenstadt dann in den Händen hält, ist Regina Diffenhard und ihrem Mann Volker sofort klar, dass etwas nicht stimmt mit ihrem Baby. Das Neugeborene schreit nicht. Solveigh röchelt, ringt nach Atem. Das Kind hat Todesangst. Ärzte und Pflegepersonal saugen Schleim ab, immer wieder. Sie versuchen, die Kleine zum Atmen zu bringen. Die Eltern sind während diesen langen Minuten nur zwei Meter von ihrer Tochter entfernt, können sie dennoch nicht in den Arm nehmen. "Mein erster und einziger Gedanke war: Die werden mir doch wohl mein Kind geben", sagt Regina Diffenhard heute.

"Keiner konnte etwas mit der angeborenen Fehlbildung unserer Tochter anfangen" – bis die Diagnose lautet: Pierre-Robin-Syndrom

Sie bekommt ihr Kind – mit einer Sauerstoffmaske. Solveighs Gesicht ist fehlgebildet. Sie hat eine Gaumenspalte; überhaupt ist der Kiefer viel zu klein, die Zunge liegt weit hinten im Rachen. Schlucken und Atmen sind unmöglich. "Keiner konnte etwas mit der angeborenen Fehlbildung unserer Tochter anfangen", sagt die Mutter. Die Ärzte bringen den Säugling auf die Intensivstation, legen ihn vorsichtshalber in den Inkubator, auch Antibiotika bekommt er. Mit drei Tagen kommt das Baby dann in die Tübinger Kinderklinik. Regina Diffenhard entlässt sich selbst aus dem Freudenstädter Krankenhaus. Sie will bei ihrem Kind bleiben.

Mit dem Auto fährt sie dem Krankenwagen hinterher, ihr Mann Volker ist bei ihr – und auch die Angst vor dem, was mit ihrem Baby passieren wird. Als die Eltern in Tübingen ankommen, ist Solveigh bereits auf der Neugeborenen-Intensivstation und wird untersucht. "Dann kam dieser Moment, in dem ich das erste Mal seit der Geburt kurz durchatmen konnte", sagt die Mutter. "Hallo Frau Diffenhard, wir haben ihre Tochter, wir wissen, was zu tun ist. Es wird alles gut", habe man zu ihr gesagt. "Ich habe das sofort geglaubt und wusste, hier sind wir richtig."

Rangmar Goelz, der leitende Oberarzt der Tübinger Neugeborenenstation, diagnostiziert das Pierre-Robin-Syndrom bei der kleinen Solveigh. Eine Krankheit, von der jährlich nur etwa 400 Kinder in Deutschland betroffen sind. Ein Tübinger Ärzteteam – Kieferorthopäden und Kinderärzte – ist Experte auf dem Gebiet dieser besonderen Fehlbildung, jahrelang hat es dazu geforscht. Mit der "Tübinger Platte" – einer Art Gaumenplatte mit Verlängerung nach hinten, die die Zunge nach vorne drückt und so das freie Atmen ermöglicht und das Kieferwachstum fördert – wollen sie dem Mädchen ein Leben ohne Einschränkungen ermöglichen.

Dass sich die Klinik mit der Aufnahme des Säuglings selbst stark einschränkt, spielt für Mediziner und Krankenhausleitung in diesem Moment keine Rolle. Einen großen Teil von Solveighs Behandlungskosten, stellt sich später heraus, muss die Kinderklinik aus der eigenen Kasse bezahlen – mehrere 10 000 Euro. Seit 2004 wird in deutschen Krankenhäusern nach diagnosebezogenen Fallgruppen, sogenannten Diagnosis Related Groups (DRG), abgerechnet. Basierend auf der Hauptdiagnose erhält die Klinik für eine bestimmte Krankheit einen identischen Vergütungssatz, unabhängig von den tatsächlich anfallenden Behandlungskosten und der Dauer des Klinikaufenthalts.

Ziel des Systems: Es soll sich selbst regulieren. Muss ein Patient länger in der Klinik bleiben, steigen die Kosten, die das Krankenhaus aus der eigenen Kasse bezahlen muss, ist ein anderer Patient dafür schneller gesund, erhält die Klinik dennoch die volle Pauschale. Bei Solveigh allerdings stehen die Ärzte vor einem Problem: Für das Pierre-Robin-Syndrom gibt es im DRG-System keine Kategorie, dafür ist es zu selten.

Rangmar Goelz nimmt die kleine Solveigh deshalb zunächst als "Neugeborenes mit einem normalen Gewicht von 3,5 Kilo" auf. Er rechnet damit, dass sie drei bis vier Wochen in der Klinik bleiben muss. Solveighs Mutter bekommt ein Zimmer, in dem sie ein paar Stunden schlafen kann. Tagsüber steht sie am Bett ihrer Tochter, oft auch nachts. Ihr Mann kümmert sich derweil zuhause in Oberndorf am Neckar um die beiden Söhne. Ärzte, Pflegepersonal und Physiotherapeuten betreuen das Baby und seine Familie fast rund um die Uhr. Zum Beatmungsschlauch kommt bald noch eine Magensonde. "Es war eine schwere Zeit für uns", erinnert sich Regina Diffenhard.

Wegen des zu kleinen Kiefers und der zu weit hinten liegenden Zunge habe das Baby nicht nur Atemprobleme gehabt, auch der Saug- und Schluckvorgang habe nicht so funktioniert, wie er sollte, erklärt Kinderarzt Goelz. Durch eine spezielle funktionelle Therapie soll das kleine Mädchen das koordinierte Atmen, Saugen und Trinken lernen.

Für die Klinik ist es ein aufwendiges Kind. Und ein hoher Kostenfaktor. Geld von der Kasse habe es für die Behandlung bei Weitem nicht ausreichend gegeben, sagt Goelz. Die noch relativ neue Therapie mit der "Tübinger Platte" werde zu wenig unterstützt. "Für komplizierte Fälle reichen die DRG und auch ein Zusatzentgelt einfach nicht aus." Und das, obwohl die Behandlungsmethode national und international publiziert und in Fachkreisen längst anerkannt sei.

Elternvereine und Pflegepersonal an der Kinderklinik in Tübingen haben die Petition "Ich bin keine Fallpauschale" gestartet

Alternativen? Ja, die hätte es gegeben, erklärt der Mediziner. "Viele Kinder mit Pierre-Robin-Syndrom werden invasiv, also recht blutig, behandelt." Den Babys werde die Zunge festgenäht, damit sie nicht in den Rachen rutschen kann. Manchmal werde auch der Unterkiefer operativ verlängert oder mithilfe eines Drahtes, an dem ein Gewicht hängt, für längere Zeit nach vorne gezogen. Wären die Ärzte bei Solveigh so vorgegangen, hätte es wegen der Operation mehr Geld gegeben. Das Klinikteam entscheidet sich für die schonendere Variante.

Regina Diffenhard ist noch immer entsetzt: "Das ist doch absurd", sagt sie. "Es kann doch nicht sein, dass Kliniken für solche Mittelaltermethoden mehr Geld bekommen. Das schadet doch letztlich den Kindern." Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Elternvereine und Pflegepersonal an der Kinderklinik in Tübingen haben die Petition "Ich bin keine Fallpauschale" gestartet. Die Forderung: eine faire und kostendeckende Vergütung der Schwerst- und Spezialfälle an den Universitätskliniken, die sich am tatsächlichen Behandlungs- und Pflegeaufwand orientiert. Vereine, Stiftungen und Gruppierungen aus ganz Deutschland beteiligen sich.

Denn das Problem betrifft fast alle Kliniken. Der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VDU) rechnet für 2013 mit einem Gesamt-Defizit von 82,4 Millionen Euro. Bundesweit werben Initiativen für die Petition. Und es lohnt sich: 15 000 Unterschriften kamen bisher in zweieinhalb Monaten zusammen. "Das Interesse ist groß. Immer wieder kommen auch Journalisten und Fernsehteams ins Haus", erzählt Thomas Hassel, der in der Klinik für Fundraising (Mittelbeschaffung) und Pressearbeit verantwortlich ist.

Als Solveigh die speziell auf ihre Anatomie angepasste Platte bekommt, läuft zunächst alles gut. Dann wächst das Baby plötzlich stark. "Durch die Platte hat für Solveigh der enorme Stress des Überlebenskampfes aufgehört. Der hat zuvor das Wachstum verhindert", erklärt Goelz. Eigentlich ein gutes Zeichen. Doch sie wächst zu schnell. Insgesamt viermal braucht das Mädchen eine neue Platte. Drei Monate ist Solveigh Diffenhard schließlich in der Kinderklinik, bis alles richtig angepasst ist und sie selbstständig atmet und trinkt. Auch für diesen langen Klinikaufenthalt bekommt die Klinik keine kostendeckenden Gelder.

"Nachdem früher die Liegezeiten Hauptkriterium waren, sollte mit dem DRGSystem ein faireres Abrechnungsverfahren geschaffen werden", sagt Rupert Handgretinger, der ärztliche Direktor der Universitäts-Kinderklinik. "Beim Großteil der Fälle kommen wir tatsächlich auch mit den Pauschalen aus." Die nur zwei bis drei Prozent der "Extremkostenfälle" – Fälle wie Solveigh Diffenhard – aber seien es, die die Klinik ins Minus stürzten. 2,2 Millionen Euro Verlust habe die Kinderklinik so im vergangenen Jahr gemacht, 2011 seien es sogar 3,2 Millionen gewesen. "Und das sind nur die Fälle, in denen wir mindestens 50 Prozent der Kosten selbst übernehmen müssen", sagt Handgretinger.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) will im Zuge einer Krankenhausreform 2014 das Fallpauschalensystem ausbauen. Es wird auch über eine Ausweitung der DRG-Kategorien nachgedacht. Klinikchef Handgretinger ist kein grundsätzlicher Gegner des Fallpauschalensystems, es lerne nur zu langsam – viel zu langsam. "Unser medizinischer Erfolg ist unser finanzieller Misserfolg", fasst er die Problematik zusammen. Einmalige Finanzspritzen und Sonderzuschüsse seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

"Wir haben noch nie ein Kind abgelehnt", betont Handgretinger. "Und das wird auch nicht vorkommen." Doch das System habe seine Grenzen erreicht. "Wenn wir überlegen, wo wir am meisten sparen können, dann landen wir schnell beim Personal." Und dann muss der Klinikdirektor zugeben: "Natürlich, die Krankenversorgung müssen wir über das Personal querfinanzieren. Zehn solcher Fälle wie Solveigh Diffenhard können bis zu fünf Schwesternstellen kosten." Ohne die Förder- und Elternvereine wäre man längst aufgeschmissen. "Sie finanzieren schon lange nicht mehr nur Teddybären für das Spielzimmer. Sie bringen uns das Geld für Pflegestellen und medizinische Geräte", bestätigt Fundraiser Hassel.

Und auch die Wartelisten würden länger. In den Monaten, in denen Solveigh im Krankenhaus ist, kann Rangmar Goelz nur 15 anstatt 16 Kinder auf der Station aufnehmen. "Fast rund um die Uhr musste eine Schwester bei dem Baby sein", sagt er. Wichtig für das kleine Mädchen, aber auch ein Platz, der einem anderen Kind fehlt. Und wiederum Einnahmen, auf die die Klinik verzichten muss.

"Die Ärzte wussten, dass sie sich mit Solveigh einen Kostenfresser ins Haus holen. Das hat uns aber nie jemand spüren lassen", sagt Regina Diffenhard. "Ganz im Gegenteil: Mein Mann und ich sind froh, dass die Ärzte in Tübingen unsere Tochter so gut therapiert haben und vor allem darüber, dass für sie gerade ein Bett frei war." Sie hoffe, dass es für die Kliniken, wenn sie Kindern wie ihrer Tochter helfen, bald fairere und bessere Finanzierungslösungen gibt.

"Du bist eben keine Norm", wendet sie sich an Solveigh. "Du bist höchstens abnorm süß." Das Mädchen ist mittlerweile 16 Monate alt und tobt mit seinen Brüdern Arthur und Boas zuhause in Oberndorf übers Sofa. "Sie ist ein fittes Mädchen", sagt Kinderarzt Goelz. Das jetzt nur noch nach Atem ringt, wenn es zu schnell rennt, weil es seine Kekse vor dem Hund retten will.

Weitere Informationen: www.ichbinkeinefallpauschale.de