Der Kommandant eines ukrainischen T- 72-Kampfpanzers beobachtet das Gefechtsfeld in der umkämpften Stadt Sjewjerodonesk. Foto: dpa/Oleksandr Ratushniak

Im Osten der Ukraine greifen aktuell 81 000 Russen 27 000 Ukrainer an. Militärisch ist es aus operativer Sicht fragwürdig, den Landstreifen um Sjewjerodonesk zu verteidigen.

Hamburg ist 50 Quadratkilometer größer als das Gebiet im Osten der Ukraine, auf dem seit Wochen Frauen, Männer und Kinder sterben. Etwa 700 Quadratkilometer umfasst das an eine Niere erinnernde Schlachtfeld mit der 107 000 Einwohner zählenden Stadt Sjewjerodonesk im Norden und dem Städtchen Solote im Süden, das Heimat von 14 000 Menschen ist.

81 000 russische Soldaten mit 400 Kampfpanzern und 1400 Haubitzen und Geschützen greifen hier 27 000 ukrainische Verteidiger, ihre 150 Panzer und 100 Geschütze an. 0,12 Prozent der Fläche der Ukraine stehen auf dem Spiel – und dennoch entsteht der Eindruck, als würde hier und jetzt das Schicksal des Abendlandes entschieden; in diesem Krieg, der mit der Besetzung der Krim und den Offensiven im Donbass bereits im Februar 2014 begonnen hat und heute bereits seit 3035 Tagen tobt.

Die Realität ist eine andere. Operativ würde die ukrainische Armee gewinnen, gäbe sie die Niere zwischen Sjewjerodonesk und Solote auf: 35 Kilometer weiter im Westen, an der Autobahn zwischen Slowjansk und Krasna Hora, haben sich ukrainische Soldaten eingegraben. Aus aktuell 241 Kilometer Frontlinie würden 38. Ukrainische Kräfte würden frei, darunter die auch 17. Panzerbrigade, einer ihrer Eliteverbände. Benannt nach Konstantin Pestushko, der schon 1921 im Kampf für die Freiheit der Ukraine gegen die Russen sein Leben ließ.

Russland hat mindestens 781 seiner modernen Kampfpanzer verloren

Zwar hat der russische Diktator Wladimir Putin weitestgehend den Donbass, das von russischen Separatisten dominierte Gebiet in der Ostukraine, unter Kontrolle, wenn ihm das jetzige Schlachtfeld in Hände fällt. Ob er dann aber noch in der Lage ist, in diesem Jahr zu einer größeren Offensive anzutreten, darf mehr als bezweifelt werden: Mindestens 781 Kampfpanzer hat er seit dem Beginn des Krieges am 24. Februar verloren – 32 Prozent seiner modernen Panzerflotte. 1286 Schützenpanzer und gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 39 Prozent des gesamten Bestandes. Die Munition seiner Artillerie wird knapp.

Das ist die Untergrenze der russischen Verluste, die ein unabhängiges, internationales Analystenteams auf der Grundlage von Fotos und Berichten in sozialen Medien erfasst hat. Die zeigen aber auch: Nur 82 Artilleriesysteme – also Geschütze mit einer Reichweite bis zu 45 Kilometern – haben die russischen Invasoren verloren; so gut wie nichts.

Die Analyse zeigt aber auch: Von den 22, Mitte Mai aus Norwegen an die Ukraine gelieferten, M-109-Panzerhaubitzen, wurden bereits drei zerstört; überproportional viele bei insgesamt 16 Verlusten dieses Waffentyps seit Februar. Auch von den von Lkw gezogenen M777-Haubitzen, die die USA, Kanada und Großbritannien lieferten, sind zwei zerstört worden – bei elf totalen Ausfällen dieses Waffentyps seit Februar. Und: Kein westliches Land hat bislang modernes, westliches Kriegsgerät in die Ukraine geschickt: Deutschland und die Niederlande wollen nächste Woche zusammen zwölf Panzerhaubitzen 2000 ins Kriegsgebiet bringen, deren ukrainische Besatzungen bislang an der Artillerieschule des deutschen Heeres in Idar-Oberstein ausgebildet wurden.

Jahrelanger Krieg in der Ukraine?

Die CDU im Bundestag fordert derweil, die deutschen Waffenlieferungen sollten „in Qualität und Quantität unverzüglich und spürbar“ intensiviert werden. Geht es nach der Union, werden aus Beständen der Bundeswehr in größtmöglichen Umfang Rüstungsgüter für die Ukraine bereitgestellt und unverzüglich dorthin geliefert.

Unterdessen erklärte der Nato-Generalsekretär, Jens Stoltenberg, in einem Gespräch mit der „Bild am Sonntag“, dass der Krieg „Jahre dauern könnte.“ Auch Premier Boris Johnson schwört die Briten auf einen langen Krieg ein. Putin habe sich auf einen Abnutzungskrieg verlegt, in dem er mit „schierer Brutalität“ die Ukraine in die Knie zwingen wolle. „Das Vereinigte Königreich und seine Freunde müssen reagieren, indem sie sicherstellen, dass die Ukraine das strategische Durchhaltevermögen, um zu überleben und als Sieger hervorzugehen“, schrieb er in der „Sunday Times“.