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Französin kauft auf Flohmarkt Kiste voller Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Vier Jahre später stößt sie auf ein Schriftstück, das in Königsfeld entstanden ist.

Königsfeld - Eine Französin kauft auf einem Flohmarkt eine Kiste voller Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Vier Jahre später stößt sie auf ein Schriftstück, das in Königsfeld entstanden ist. Die Spurensuche beginnt.

Königsfeld. Das Papier ist vergilbt. Vier verblasste Seiten. In engen Linien verläuft die blaue Schrift. Kurz. Prägnant. Platzsparend. Die Buchstaben auf der Rückseite schimmern durch das Blatt. Das Datum auf der Vorderseite: der 5. November 1944.

Vor mehr als 70 Jahren, knapp ein halbes Jahr vor Kriegsende, schreibt Hilde Bessinger einer Bekannten. Sie lebt damals in Königsfeld, arbeitet für die heutigen Zinzendorfschulen. Die Zeit ist geprägt von Luftangriffen. Städte werden zerbombt. Soldaten und Zivilisten sterben für die Ideologie der Nationalsozialisten – die auch vor Königsfeld nicht Halt macht. "Unsere private Oberschule ist inzwischen verstaatlicht worden und im Zuge dieser Verstaatlichung eine SS-Heimschule in unsere Häuser verlegt worden", schreibt Bessinger ihrer Bekannten.

Mehr als 70 Jahre später hält eine dritte Frau den Brief in ihren Händen: Michelle Pineau. Das Dokument hat eine lange Reise hinter sich – von Königsfeld über Mönchberg und Leipzig nach Calvados. Dort, in einer französischen Stadt in der Normandie, lebt Pineau mit ihrem Mann.

Vor vier Jahren ersteigerte die Deutschlehrerin eine Kiste mit Hunderten von Briefen auf einem Flohmarkt in Leipzig. "Mein Mann hat sich in die Stadt verliebt und wir waren zu dieser Zeit dort im Urlaub", erzählt die Französin. Seither verbringt sie ihre Freizeit mit dem Transkribieren und Übersetzen der Briefe. "Ich will es verstehen. Die Menschen verstehen", beschreibt sie ihre Motivation.

Angefangen hat dieses nicht alltägliche Hobby vor zehn Jahren. "Freunde haben mir eine Tasche gegeben, die sie in der Nähe von Paris gefunden hatten. Sie gehörte einem Soldaten", erinnert sich Pineau. Die heute 65-Jährige packte das Recherchefieber. Sie begann, den Soldaten zu suchen. Der Mann war bereits gestorben, doch sie fand eine Frau, die in den Briefen vorkam. "Ich habe seine Geschichte rekonstruiert", sagt sie, und etwas Stolz schwingt in ihrer Stimme mit.

Das will ihr nun auch bei Hilde Bessinger und Klara Köhler gelingen. Anfang Januar stößt sie auf die Korrespondenz, nachdem sie sich Jahr für Jahr durch Zeitdokumente gekämpft hatte. Drei Klicks später findet sie Artikel über die NS-Zeit in Königsfeld auf der Website des Schwarzwälder Boten. "Ob ihr die Zeitung helfen kann?", fragt sie zögernd am Telefon. Und so gehen Hilde Bessingers Briefe erneut auf Reisen. In digitaler Form geht es von der Normandie in den Schwarzwald. Zurück zum Ursprung. Wo die Spurensuche beginnt.

Seite 2: die Recherche

Wie kam Hilde Bessinger nach Königsfeld? Was hat sie hier gearbeitet? Was erzählt sie über die Kriegszeit? Hans-Jürgen Kunick muss sich nicht lange bitten lassen, als er von den Briefen erfährt. Die Geschichte der Zinzendorfschulen und der Gemeinde Königsfeld, das merkt man ihm schnell an, ist sein Steckenpferd. Der ehemalige Rektor der Zinzendorfschulen ist noch heute als Archivar tätig, hält Vorträge über den Zweiten Weltkrieg und besucht als Zeitzeuge Geschichtsklassen in Königsfeld.

In seinem Esszimmer hat er die Unterlagen vor sich ausgebreitet: Originalbriefe, Transkriptionen, Nachschlagewerke. Das wohl größte Hindernis sind die Zeilen selbst. "Die Dame hat nun wirklich keine schöne Schrift", meint Kunick und nickt vielsagend.

Seine erste Analyse: Hilde Bessingers Briefe sprechen die meiste Zeit von alltäglichen Problemen und Sorgen, mit ihrer Bekannten Klara Kohler tauscht sie sich aus, hofft auf Rat. Beschreibungen ihres Tätigkeitsfeldes legen derweil nahe, dass Bessinger in einer der Küchen der Schule beschäftigt war.

"Weder Frau Kohler noch Frau Bessinger tauchen in irgendwelchen Aufzeichnungen auf", fasst Kunick seine Recherchen im Archiv zusammen. Doch die Ausführungen streifen einige Ereignisse, die Bessingers Alltag verändern sollten. Die angesprochene Verstaatlichung, die die Frau miterlebt, wertet der ehemalige Rektor als "sehr genau".

In Königsfeld habe man sich lange Zeit dagegen gewehrt, dass eine SS-Heimschule errichtet wird, wie er erklärt. Dabei waren die heutigen Zinzendorfschulen damals gleich aus zweierlei Gründen gefährdet: Zum einen hatten sie mit der Brüdergemeine einen kirchlichen Träger, zum anderen waren vor allem Privatschulen "den Nazis ein Graus", wie Kunick erzählt.

Zugeständnisse, das Wohlwollen eines Dezernenten in Karlsruhe und die Verschleierung der kirchlichen Trägerschaft durch die Gründung eines Vereins halfen dem damaligen Leiter der sogenannten Knabenanstalt, viele Jahre den Betrieb der Privatschule aufrechtzuerhalten. "Der christliche Charakter wurde insgeheim nicht aufgegeben", sagt Kunick. Erst im Oktober 1944, also in der Zeit, in der Bessinger in Königsfeld lebte, folgte die Verstaatlichung. Die Mädchenanstalt wurde derweil bereits 1943 geschlossen.

"Inzwischen ist der neue Chef ganz übergesiedelt", heißt es im Brief weiter. Und dem Archivar ist klar: Damit muss Emil Billing gemeint sein. Der Nationalsozialist wurde aus dem elsässischen Rufach nach Königsfeld beordert. Laut Kunick hatte man mit dieser Wahl Glück im Unglück. "Billing war im Grunde kein so rabiater Nazi", bilanziert er. Die Außenwirkung sei zwar eine andere gewesen, dennoch hätten dies mehrere Quellen später bestätigt.

Während der Krieg in ganz Europa wütet, kommt es auch in Königsfeld zu weiteren Veränderungen. Wenige Wochen nach der Nachricht über Biling wendet sich Bessinger erneut an ihre Bekannte. "Sie werden ja wohl auch die Ereignisse hier im Westen verfolgen und festgestellt haben, dass die Front immer näher in unseren Schwarzwald heranreicht", schreibt sie. Und weiter: "Von Straßburg-Kehl sind die Flüchtlinge hier angekommen."

Gemeint sein könnte damit für Kunick die Umsiedlung eines in Straßburg angesiedelten Ministeriums der Nationalsozialisten. "Ein Teil davon kam nach Königsfeld und suchte Unterschlupf in der Knabenanstalt", erzählt Kunick. In der Folge, so heißt es in Bessingers Brief, werden die Lazarette zu Kriegslazaretten: "Die Tiefflieger sind keine seltenen Gäste mehr."

Obwohl Bessinger schlussendlich "nur" eine Küchenkraft war, geben die Briefe dennoch einen kleinen Einblick in das damalige Leben. Für Bessinger ist einige Monate vor Kriegsende klar, dass sie Königsfeld verlassen will – die genauen Gründe, ob der Ideologie oder anderen Umständen geschuldet, bleiben unklar.

"Eines steht fest. Dass ich unter diesen Arbeitsbedingungen nicht länger bleiben werde. Irgendwie muss sich etwas ändern", schreibt sie im November 1944. Es ist ihr letzter Brief an Klara Kohler. Ihre Geschichte, zumindest das, was sich durch die Briefe rekonstruieren lässt, endet hier. Doch für ihre neue Besitzerin ist es erst der Anfang.

Bessingers Briefe, so Michelle Pineau, haben sie auf ein neues Kapitel gestoßen – durch Emil Billing und seinen früherer Wohnort Rufach. Im Dritten Reich habe sich dort eine Nazischule befunden, die laut Berichten zur "Eindeutschung" von "rassisch wertvollen" Kindern gegründet wurde. Pineau will dem nachgehen. Sehen, ob sie etwas in ihren Briefen findet. Eine neue Spurensuche beginnt.