Atlantische Umwälzbewegung: Warmes Wasser wird aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transportiert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung fließt es in der Tiefe wieder nach Süden. Foto: Imago/NurPhoto

Ein Erliegen der Atlantik-Strömung würde die Welt grundlegend verändern. So warnen Forscher unter anderem vor eisigen Temperaturen in Teilen Europas. Doch wie realistisch ist dieses Horrorszenario? Und wann könnte es so weit sein?

Einige besonders augenfällige Auswirkungen der globalen Erwärmung auf das Erdsystem können die meisten Menschen aufzählen: So schmelzen die Polkappen und der Permafrostboden taut. Dass sich die Atlantische Umwälzbewegung – abgekürzt Amoc (Atlantic Meridional Overturning Circulation) – abschwächt, ist hingegen weit weniger bekannt. Dabei sind die vermuteten Folgen noch sehr viel bedrohlicher.

Besonders dramatisch wäre die Situation, sollte dieses Strömungssystem im Atlantischen Ozean, zu dem auch der Golfstrom gehört, komplett zusammenbrechen. Fachleute sprechen von einem sogenannten Kipppunkt. Die Amoc würde innerhalb weniger Jahrzehnte zum Erliegen kommen und sich auch unter günstigen Bedingungen nicht mehr erholen.

Amoc: Grafische Illustration der Atlantischen Umwälzbewegung. Foto: NOAA//National Oceanic and Atmopheric Administration

Steht ein Zusammenbruch des Strömungssystem im Atlantik in den nächsten Jahrzehnten  bevor?

Eisberg auf Grönland nahe der südwestlich gelegenen Stadt Ilulissat. Foto: Imago/NurPhoto

Grundsätzlich verlagert die Atlatikströmug Wärme aus dem Süd- in den Nordatlantik und trägt so zu einem vergleichsweise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses Strömungssystem kollabieren könnte, wird in der Fachwelt derzeit intensiv und kontrovers diskutiert.

Es mehren sich die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrscheinlicher wird. So berichten niederländische Forscher im Fachblatt „Science Advances“, dass sie einen Zusammenbruch der Amoc auch in einem komplexeren Klimamodell unter bestimmten Bedingungen simulieren können. Die Arbeit wurde von mehreren Fachleuten als solide und seriös eingestuft.

Es gab aber auch Kritik an bestimmten Annahmen der niederländischen Forschergruppe. Diese stellte auch eine Art Frühwarnsystem vor, dass den Experten zufolge zeigt, dass sich die Nordatlantikströmung in Richtung eines Kipppunkts entwickelt.

 Temperaturabfall von bis zu 15 Grad wäre die Folge

Ende der Atlantikströmung: Eine neue Eiszeit könnte die Folge sein. Foto: Imago//NurPhoto

Die Folgen wären den Analysen zufolge dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitteltemperatur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um einige bis zu 15 Grad fallen. Besonders stark sinke sie im Winter und im Nordwesten. So könnte es im norwegischen Bergen im Februar um mehr als drei Grad pro Jahrzehnt kälter werden. Die verheerenden Auswirkungen solcher rasanten und extremen Veränderungen auf Natur und Landwirtschaft kann man nur erahnen.

In anderen Regionen könnte es eine beschleunigte Erwärmung geben. Für den Amazonas zeigt das Modell eine drastische Änderung der Niederschlagsmuster. „Außerdem wird prognostiziert, dass durch den abrupten Zusammenbruch der Ozeanzirkulation der Meeresspiegel in Europa um 100 Zentimeter ansteigt“, erklärt Erstautor René van Westen von der Universität Utrecht.

Zwei Strömungen tauschen kaltes und warmes Wasser aus

Die Klimaerwärmung hat auf die Atlantikströmung eine bremsende Wirkung. Foto: Imago/NurPhoto

Um die Auswirkungen der Klimakrise auf die Amoc nachvollziehen zu können, muss man sich das System etwas genauer unter die Lupe nehmen: Es besteht aus zwei entgegengesetzten Strömungen. Warmes Wasser wird nahe der Oberfläche aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transportiert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung fließt es in der Tiefe wieder nach Süden.

Treiber dieses System sind Dichteunterschiede des Wassers. Vereinfacht gesagt: Das Wasser in Polnähe wird besonders schwer, weil es kalt und salzig ist. Dadurch sinkt es in die Tiefe und sorgt dadurch für Dynamik.

Erderwärmung bremst Dynamik der Atlantikströmung aus

Die Klimaerwärmung hat auf dieses System Fachleuten zufolge eine bremsende Wirkung. Zum einen steigt die Temperatur des Oberflächenwassers im hohen Norden. Zum anderen macht der Eintrag von Süßwasser, beispielsweise von schmelzenden Eisschilden, das Wasser dort weniger salzig.

Beide Phänomene senken die Wasserdichte des nördlichen Oberflächenwassers, so dass der Antrieb der Amoc schwächer wird. Im schlimmsten Fall verstärkt sich das Geschehen immer mehr selbst, bis das Strömungssystem kollabiert.

Die Preisfrage ist, unter welchen Umständen ein solcher Zusammenbruch stattfinden könnte – und vor allem wann. Die Gruppe um van Westen gibt darauf – wie viele andere Fachleute – keine direkte Antwort.

Kollabiert die Atlantikströmung ab 2025?

Polarlichter über Grönland Foto: Imago/NurPhoto

Anders dänische Forscher, die im Juli 2023 im Fachblatt „Nature Communications“ eine Vorhersage wagten. Demnach ergaben ihre Analysen, dass die Amoc mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen 2025 und 2095 zusammenbricht.

Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. Viele Forscher hielten die Vorhersagen auch aus methodischen Gründen für nicht haltbar.

„Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt“

So kritisiert Niklas Boers von der TU München, der selbst intensiv zu einer Abschwächung der Amoc forscht, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherheiten nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.

Die Arbeit mache viel zu vereinfachende Annahmen, um die zukünftige Entwicklung der Amoc allein aus historischen Daten vorherzusagen. Andererseits schreiben die niederländischen Forscher um van Westen über die Erkenntnisse der dänischen Kollegen, dass "ihre Schätzung des Kipppunkts richtig sein“ könnte.

Auch Johanna Baehr, Leiterin Klimamodellierung am Institut für Meereskunde der Universität Hamburg, betont die Unsicherheiten einer Prognose: „Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1000 Jahren“. Baehr sagt mit Blick auf die niederländische Studie aber auch: „Die Möglichkeit eines Kollapses lässt sich nun nicht mehr völlig von der Hand weisen.“ Aufgabe der Wissenschaft sei es nun, einen möglichen Zeitrahmen immer weiter einzugrenzen.

Weltklimarat geht von abnehmender Atlantik-Zirkulation aus

Es ist fast unmöglich konkret zu benennen, wie nah ein Kippelement tatsächlich am Kollaps ist. Foto: Imago/NurPhoto

Für Johanna Baehr ist der Sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) weiterhin das Maß der Dinge. Darin heißt es: Die Amoc werde im Laufe des 21. Jahrhunderts – unabhängig vom Klimaschutz-Szenario – sehr wahrscheinlich abnehmen. Zudem sei man sich relativ sicher (englisch: medium confidence), dass das nicht zu einem Kollaps vor 2100 führt.

Die Amoc ist nicht das einzige System, das als sogenanntes Kippelement diskutiert wird. Ende vergangenen Jahres stellte der „Global Tipping Points Report“ fünf große Natursysteme heraus, die vor möglicherweise unumkehrbaren Umwälzungen stehen. Allerdings ist es im Einzelfall schwierig, konkret zu benennen, wie nah ein Kippelement tatsächlich am Kollaps ist. Zu viele Komponenten spielen eine Rolle.

Atlantikströmung so schwach wie nie zuvor seit 1000 Jahren

Satellitenaufnahme des Atlantischen Ozeans mit Afrika, Kanaren und Kapverdischen Inseln vom 26. Januar 2024. Foto: Imago/Cover Images

Mit Blick auf die Amoc ist laut Boers unklar, wie viel zusätzliches Süßwasser bei einer bestimmten Erderwärmung tatsächlich in den nördlichen Atlantik kommen würde, sei es durch schmelzende Polkappen oder mehr Eintrag durch Flüsse und zusätzlichem Regen.

Zudem spiele eine große Rolle, wo genau das Süßwasser eintritt. Andererseits gebe es die Sorge, dass die Modelle die Amoc als zu stabil darstellen. Die Strömung sei, sagt Boers, momentan so schwach wie nie zuvor in den vergangenen 1000 Jahren.

Für Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) muss das Risiko eines Kollapses um jeden Preis gemindert werden. „Die Frage ist nicht, ob wir sicher sind, dass dies passieren wird. Das Problem ist, dass wir es zu 99,9 Prozent ausschließen müssen." Sobald es ein eindeutiges Warnsignal gebe, sei es zu spät, um noch etwas dagegen zu tun.

Info: Dominoeffekt beim Klimawandel

Global Tipping Points
Durch die bisherige Klimaerwärmung drohen Experten zufolge fünf großen Natursystemen möglicherweise unumkehrbare Umwälzungen. Das geht aus dem am Mittwoch (6. Dezember) veröffentlichten „Global Tipping Points Report“ (Kipppunkte-Bericht) hervor. Erstellt wurde der Bericht von einem internationalen Team aus mehr als 200 Forschern. Die Koordination lag bei der britischen Universität von Exeter und dem Bezos Earth Fund.

Domino-Effekt
Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert.

Kaskade von Kipppunkten
„Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten“, teilt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) mit, das an dem Bericht beteiligt war. Dabei geht es um das grönländische und westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete. „Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein“, heißt es seitens des PIK.

Folgen
Da die bisherigen Antworten der Regierungen weltweit nicht ausreichend sind, legen die Forscher sechs Empfehlungen vor, um die negativen Kipppunkte zu vermeiden und umgekehrt positive Kipppunkte einzuleiten. Zu den sechs Empfehlungen gehört demnach, Emissionen durch fossile Brennstoffe und durch Landnutzung deutlich vor der Jahrhundertmitte zu stoppen. Zudem sollten negative Konsequenzen für besonders stark betroffene Gruppen und Länder abgemildert werden. Es brauche zudem koordinierte Bemühungen, um positive Kipppunkte auszulösen und die öffentliche Aufmerksamkeit für Kipppunkte zu erhöhen (mit dpa-Agenturmaterial).