Wollen afghanischen Frauen Mut machen (von links): Fawzia Khanjare, ihre Tochter Sabahat und die Kehler Integrationsmanagerin Marlene Ofner. Foto: Stadt Kehl

Afghanistan: Flüchtlinge in Kehl berichten von ihrer Odyssee und der Lage im Land

Kehl - 170 Flüchtlinge aus Afghanistan leben in Kehl. Alle haben Familie und Freunde in ihrem Heimatland. Seit die Taliban ihre Offensive begonnen haben, sind sie in größter Sorge. Sie berichten von der Lage ihrer Angehörigen – von Verzweiflung und Angst.

Dass ihre Geschwister mit ihren Familien eine Chance bekommen werden, sich nach Europa zu retten, hält Fawzia Khanjare für nahezu ausgeschlossen: "Sie verstecken sich in einem Keller", berichtet die 46-Jährige. Wenn sie telefonieren können, "machen sie alles zu, damit niemand sie hört oder sieht".

So wie die Familie Khanjare sorgen sich auch die anderen in Kehl lebenden Geflüchteten aus Afghanistan um Freunde und Angehörige, seit sich die Situation in ihrer Heimat von Tag zu Tag verschlimmert, teilt die Stadt mit. Bei Marlene Ofner und ihren Kolleginnen Tamina Braunewell, Johanna Bung, Svenja Gerbendorf und Integrationsmanager Fares Musa haben sich innerhalb weniger Tage sechs Familien gemeldet, die großen Gesprächsbedarf haben.

"Alle haben Angst um Angehörige und Freunde – die Ereignisse lassen bei den hier lebenden Afghanen Traumata wieder aufbrechen", so die Mitteilung. Zwei Familien hätten sich bereits mit der Frage ans Integrationsmanagement gewandt, ob es nicht möglich sei, dass sie ihre Familien nach Deutschland holen könnten. Andere stünden unter Schock, weil Familienmitglieder bereits von den Taliban ermordet wurden oder sich auf der Flucht befinden.

Familienvater Habib erhielt Morddrohungen

Fawzias Mann, Habib Rahman, erhielt in Afghanistan Morddrohungen. Immer wieder haben sie die Botschaften der Taliban vor ihrem Haus in Maimana in der Provinz Faryab im Norden Afghanistans gefunden, berichtet Fawzia: "Wir holen deine Frau und deine Kinder." Habib Rahman arbeitete bei der afghanischen Polizei, war Drogenfahnder.

Fawzia ist Lehrerin. Ihren Beruf konnte sie nur unter großen Schwierigkeiten ausüben: Mehr als zweimal pro Woche hat sie es nicht gewagt, in der Mädchenschule zu unterrichten. "Wir hatten ein schönes Haus", sagt sie, "ein Auto". 2015 haben sie dennoch alles zurückgelassen und sind geflohen. Aus Angst um ihr Leben und das ihrer fünf Kinder. Das Ehepaar engagierte sich in einer Partei, die sich für die Demokratisierung des Landes einsetzte.

Fawzia fällt es schwer, über die Flucht zu sprechen. Mit dem Flugzeug ging es in den Iran, von dort zu Fuß in die Türkei – ihre heute 18-jährige Tochter Sabahat war da gerade 13 Jahre alt. Als sie versuchten, mit einem Boot von der Türkei nach Griechenland überzusetzen, schlug das Boot mitten in der Nacht Leck und sank. Von den 80 Insassen überlebten nur zwölf. Zwei Stunden lang hätten sie im Meer getrieben, erzählt die 46-Jährige. Am Ufer holte jemand Hilfe; Fawzia und ihre Familie wurden gerettet.

Trotz des Schiffbruchs wagte die Familie einen zweiten Versuch: "Lieber tot als zurück nach Afghanistan", sagt Fawzia noch heute und schaudert. Vor eineinhalb Jahren wurde ihr Bruder in Masar-i-Scharif auf offener Straße von einem Taliban vor den Augen seiner Kinder erschossen.

"Meine Mutter ist stark", sagt Sabahat, die inzwischen ihren Hauptschulabschluss gemacht hat und flüssig Deutsch spricht. In Afghanistan konnte sie nur ein- bis zweimal pro Woche in die Mädchenschule gehen. Sie träumt nun davon, Kieferorthopädin zu werden und sucht derzeit einen Ausbildungsplatz als Zahnarzthelferin. Bis sie einen gefunden hat, arbeitet sie im Schichtdienst bei Zalando. Wie ihre Mutter und ihr Vater. Nichts zu tun, ist für Sabahat keine Option.

18-jährige Sabahat will Frauen Mut machen

Jeden Tag hört die Familie deutsche und afghanische Nachrichten. Die 18-Jährige macht sich große Sorgen, nicht nur um ihre Freundinnen in Afghanistan, sondern "um alle Frauen und Mädchen". Sie würde so gerne helfen – wenn sie nur wüsste wie. "Wir wollen uns nicht verstecken", bricht es aus ihr heraus, "wir wollen den Frauen und Mädchen Mut machen, dass sie nicht aufgeben, dass sie versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen".

"In Afghanistan gibt es keine Sicherheit für Mädchen", bedauert Sabahat. "Frauen haben dort keine Rechte." Mutter und Tochter sind dankbar, dass sie in Deutschland, in Kehl, eine neue Heimat gefunden haben. Und dass sie bei Integrationsmanagerin Marlene Ofner Unterstützung finden. "Die Deutschen haben uns immer geholfen; sie haben uns nie im Stich gelassen", so Sabahat.

Angesichts des zunehmenden Zeitdrucks werden Verzweiflung und Gewalt rund um den Flughafen von Afghanistans Hauptstadt Kabul immer größer, berichtet die Deutsche Presseagentur am Freitag. Tausende Afghanen hofften auf eine Gelegenheit, nach der Machtübernahme der Taliban außer Landes zu kommen. Auch die Evakuierung von Ausländern war am Freitag nicht abgeschlossen. Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein Deutscher, ein Zivilist, eine Schussverletzung.