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Jürgen Klinsmann über das Aus bei der EM und über Konsequenzen für seinen Nachfolger.

Stuttgart - Er ist vom Fach, und er kennt sich aus mit den Höhen und Tiefen im Fußball. „Man muss auch mal einem Besseren gratulieren können“, sagt der ehemalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann.


Hallo, Herr Klinsmann. Deutschland ist traurig nach dem Aus bei der EM. Wurden bei Ihnen Erinnerungen an die WM 2006 wach?
Ja, aber 2006 war es für mich dramatischer – auch durch die Abläufe in der Verlängerung, kurz vor Schluss. Damals waren wir gleichwertig. Dieses Mal würde ich den Sieg der Italiener als verdient bezeichnen.

Haben Sie Italiener so stark erwartet?
Ja, schon. Ich habe sie schon im Gruppenspiel gegen Spanien sehr stark gesehen.

War die Bürde des Favoriten zu groß für die junge deutsche Elf?
(überlegt) Das ist schwer zu sagen. Eher nicht. Sie kam ja auch in den vier vorhergehenden Spielen mit dieser Rolle zurecht.

Es gibt jetzt Diskussionen um die Aufstellung und um Trainer Joachim Löw.
Mag sein, aber ich halte sie für überflüssig. Es ist doch klar, dass nicht jede Maßnahme eines Trainers automatisch zum Erfolg führt. Der Trainer trifft vor dem Spiel Entscheidungen, die nicht willkürlich sind. Sie sind das Ergebnis seiner Beobachtungen und seiner Arbeit. Es gibt eben keine Garantie für Siege.

Was raten Sie Ihrem Freund und ehemaligen Assistenten?
Er braucht keinen Rat von mir. Er muss jetzt ein paar Tage durchatmen, dann das Turnier analysieren und die richtigen Schlüsse für die anstehende WM-Qualifikation daraus ziehen.

Sind Sie sicher, dass er am Ende nicht hinwirft?
Joachim Löw wirft nicht hin. Da bin ich sicher. Er stand im Halbfinale der EM mit einer Mannschaft, die sich noch weiterentwickeln wird. Sie ist an einer starken italienischen Mannschaft gescheitert.

Wie steckt man so was weg?
Das gehört zur Grundausstattung eines jeden Fußballers oder Trainers. Es gibt keinen Spieler, der solche Entwicklungen nicht mitgemacht hat. Man muss auch mal einem Besseren gratulieren, das gehört einfach dazu.

Wer ist Ihr Endspiel-Favorit?
Italien. Es wird aber auf alle Fälle eine ganz knappe Angelegenheit.

Unabhängig vom Ausgang dieses Turniers müssten Sie ein zufriedener Beobachter sein.
Bin ich, absolut. Ich hatte tolle Tage, und ich habe mit Kiew und Warschau auch sehr schöne Städte gesehen mit vielen freundlichen und offenen Menschen. Ich war für die BBC unterwegs, und das hat mir sehr gut gefallen.

Gutes Zeugnis für das deutsche Team


Bisweilen scheint es, die EM 2012 sei die Fortsetzung der WM 2006 mit anderen Mitteln. War die deutsche Mannschaft nah an dem, was Sie sich einst vorgestellt haben?
Das kann man alles nicht miteinander vergleichen. 2006 gab es eine ganz andere Aufgabe. Wir mussten innerhalb von zwei Jahren ein Team auf die Beine stellen, das diesen speziellen Anforderungen einer WM im eigenen Lande standhält.

Sind Tempo und Spielintensität noch höher geworden?
Ja, ich denke schon. Weil einfach noch mehr Faktoren greifen wie Fitnesstrainer, medizinische Versorgung, Ernährung und so weiter.

Die Topstars aus den europäischen Spitzenclubs kommen zum Turnier mit einer kurzen Vorbereitungsphase und 60, 70 Spielen in den Beinen. Ein Fall von Überforderung?
Das kann man pauschal nicht sagen. Spieler, die sich richtig ernsthaft mit ihrem Beruf befassen und von ihren Vereinen auch dementsprechend unterstützt werden, laufen auch bei der Weltmeisterschaft zu großer Form auf. Wie zum Beispiel alle Spieler von Real Madrid.

Gibt es neue Erkenntnisse in Bezug auf Taktik und Spielsysteme?
Richtig neu sind die Erkenntnisse nicht. Aber die bestehenden Erkenntnisse wurden verfeinert. Die Innenverteidiger und die defensiven Mittelfeldspieler sind für den Spielaufbau noch wichtiger geworden – die Abwehrreihen verteidigen teilweise noch stärker als bisher.

Sind polyvalente und taktisch gute ausgebildete Spieler die Zukunft? Hat der Individualist noch eine Zukunft?
Der Individualist hat natürlich eine Zukunft – wenn er seine Klasse in den Dienst der Mannschaft stellt. Leute wie Xavi, Iniesta, Özil, Khedira, auch Ronaldo – das sind ja auch Individualisten. Aber sie leben ihre Egoismen nicht aus. Im Fußball wird immer die Mischung der Spieler den Ausschlag geben. Aber im Mittelpunkt steht immer stärker die Mannschaft.

Ist es noch sinnvoll, in den Kategorien wie Abwehr- oder Angriffsspieler zu denken?
Natürlich gibt es noch Unterschiede zwischen Miro Klose und Mats Hummels. Aber ein Abwehrspieler muss auch angreifen können und ein Angriffsspieler auch verteidigen. Das Angriffsspiel beginnt hinten und die Verteidigung schon ganz vorne. Aber deswegen bleibt ein Stürmer trotzdem ein Stürmer und ein Abwehrspieler ein Abwehrspieler.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Trainingsarbeit in den Vereinen?
Das kann man so direkt kaum vergleichen. Die Nationalspieler sind bei einer Europameisterschaft acht Wochen zusammen. Da ist die Vorbereitung sehr speziell und auch die tägliche Arbeit. Vielleicht kann man bestimmte Elemente aus dieser sehr speziellen Vorbereitung einfließen lassen. Dass aber zum Beispiel die deutsche Mannschaft trotz hoher Belastung am Ende der Saison bisher keinerlei Verletzungen hat, zeigt auch die gute und akribische Arbeit.

Was zeichnet die deutsche Mannschaft in ihren Augen aus, und wie viel Potenzial steckt noch in diesem Team?
Diese Mannschaft ist noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung. Sie war die jüngste Mannschaft des Turniers, und jetzt drängen schon wieder noch jüngere Spieler ins Team. Das sichert auf Jahre hinaus den notwendigen Konkurrenzkampf, den man braucht, um eine Mannschaft weiterzuentwickeln.

Wann treten die USA gegen Deutschland an?
Wir würden gerne gegen die deutsche Nationalmannschaft im Sommer 2013 unser Jubiläumsspiel austragen. Das ist auch bei allen Verantwortlichen hinterlegt.