Jens Loewe erkennt noch keine Chance auf Burgfrieden in der S-21-Diskussion. Foto: Leif Piechowski

OB-Kandidat Loewe für mehr Bürgerbeteiligung, aber richtig vorbereitet – S21 inspirierte ihn zu Bewerbung

Stuttgart – Im Umbruch in Stuttgart durch das Bahnhofsprojekt wittert Jens Loewe eine Chance. Jetzt, meint er im Interview, hat ein wirklich Parteiloser eine Chance auf den OB-Sessel. Sie will er nützen, sagt der Kandidat im Interview.

Herr Loewe, Sie sind „Aktivist“ und freischaffender Künstler. Warum bewerben Sie sich um einen Job in der größtmöglichen Tretmühle?
Ich arbeite überwiegend an künstlerischen Projekten. Das ist ungefähr mein halber Tag. Am anderen halben Tag befasse ich mit politischen Aufgaben. Mit meiner Kandidatur möchte ich den kommunalpolitischen Anliegen, mit denen ich mich seit etwa 15 Jahren befasse, mehr Nachdruck verleihen. Daher bewerbe ich mich zum ersten Mal überhaupt um ein politisches Amt. Vor allem deshalb, weil es sich um eine Personenwahl handelt.

Ihr Berufsleben ist vermutlich nicht einfach. Kann es sein, dass Sie einfach auch mal gern ein anständiges Gehalt hätten?
Unter diesem Generalverdacht steht zunächst sicher jeder, der sich um das Amt bewirbt. Aber ich kann für mich Entwarnung geben. Ich habe noch nie eine Tätigkeit, die ich aus Überzeugung tue, von dem monetären Ertrag abhängig gemacht.

Ihr politisches Arbeiten zielte meist auf mehr direkte Demokratie. Sie wollen die gewählten Parlamente durch Volksabstimmungen entmachten, wären als OB aber gleichzeitig Vorsitzender des Gemeindeparlaments.
Ich will nicht alle Parlamente abschaffen. Auch in der Demokratie ist es richtig, Menschen zu mandatieren und in Parlamente zu entsenden. Man kann nicht alles direkt demokratisch entscheiden. Ich will nicht den Staat umstürzen, aber ich sehe ein Ungleichgewicht, das korrigiert werden muss in Richtung mehr direkter Beteiligung.

Und Sie hätten gern, dass in der Stadt drei oder vier Bürgerentscheide pro Jahr stattfinden?
Ja schon, aber eine Bürgerbeteiligung kann, wenn Sie eine Farce ist und auf falschen Voraussetzungen beruht, auch ein Pferdefuß sein. Dann können sich die Bürger nachher nicht beteiligt, sondern getäuscht fühlen. Bürgerbeteiligung allein reicht nicht. Es kommt auf die richtige Vorbereitung und die Art und Weise der Umsetzung von Verfahren und Ergebnissen an. Es gibt aber auch andere Formen von echter Beteiligung, die es zu fördern gilt, dafür würde ich mich einsetzen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Nehmen Sie die Idee des Bürgerhaushalts. In der brasilianischen Stadt Porto Alegre wird der Stadthaushalt, der durch die Bürgerbeteiligung zustande kommt, verbindlich umgesetzt. In Stuttgart gibt es nur die Bertelsmann-Sparversion. Da dürfen die Bürgerinnen und Bürger nur empfehlen, aber nicht entscheiden. Da bleibt es dem Gemeinderat überlassen, was umgesetzt wird.

Was gab den Ausschlag dafür, dass Sie sich um den OB-Sessel bewerben wollen?
Es war der Umbruch, der in der Stadt durch das Ringen um Stuttgart 21 stattfand. In „Friedenszeiten“ würde ich mich nicht bewerben. Unter normalen Bedingungen hätte ich keine Chance gegen die Dominanz der Parteien und ihrer Kandidaten. Der Streit um S 21 hat eine Beteiligung der Bürgerschaft quer durch alle Schichten hervorgebracht, von ganz links bis zu stockkonservativ. Dadurch entstand trotz aller Probleme in der Stadt eine ganz andere, neue Atmosphäre. Das neue Fundament der Aufmerksamkeit und des Beteiligungswillens reizt mich.

"Ich bin weder der Wahre noch der Einzige"

Soll heißen, Sie sind als OB-Kandidat die Antwort auf den Umbruch in Stuttgart, der einzige und wahre Kandidat für diesen Moment?
Das möchte ich zurückweisen. Ich bin weder der Wahre noch der Einzige. Aber ich habe die Arbeit mit den Menschen und das Suchen nach Zusammenarbeit gelebt. Das ist bei mir nicht Wahlkampfpragmatismus.

Was ist mit S 21? Könnten Sie den Bau des Tiefbahnhofs noch verhindern?
Das sollte niemand versprechen. Ob der Bahnhof gebaut wird, kann niemand seriös prognostizieren. Mit meiner Haltung bei diesem Thema bin ich aber wahrscheinlich der radikalste unter den Kandidaten . . .

. . . radikaler selbst als Hannes Rockenbauch?
Das kann ich nicht sicher sagen, ich würde jedenfalls massiv an der Klärung der Leistungsfähigkeit des alten Kopfbahnhofs und des geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhofs festhalten. Leider wurde ja selbst in der Schlichtung nicht die wirkliche Leistungsfähigkeit beider Bahnhöfe verglichen. Es ging nur um die Frage, ob der angestrebte Fahrplan realisierbar wäre.

Warum nehmen Sie diesen Punkt so wichtig?
Es gibt den dringenden Verdacht, dass der alte Bahnhof mehr leistet als der S-21-Tiefbahnhof. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Leistungsfähigkeit beider Bahnhöfe zu klären, dann wären wir auch nicht in der Lage, den neuen Bahnhof zu bauen. Ohne diese Klärung darf der Bahnhof nicht gebaut werden. Wenn sich herausstellen sollte, dass der alte Bahnhof mehr leistet, würde ich mich als OB verpflichtet fühlen, die Angelegenheit den Stuttgartern noch einmal zur offenen Debatte vorzulegen.

Das heißt, Sie akzeptieren das Ergebnis der Volksabstimmung nicht uneingeschränkt?
In der Tat. Die offene Frage ist wichtig und muss geklärt werden. Das darf auch eine Volksabstimmung nicht übergehen. Außerdem bin ich mir mit OB Schuster einig, dass der Volksentscheid rechtlich unzulässig war. Da wurde nach einem Auftrag zur Kündigung von Finanzierungsverträgen gefragt, die laut Abkommen der Projektpartner nicht kündbar sind. Da die Bedenken auch in der CDU verbreitet waren, wundere ich mich, dass man sich dort so sehr über das Ergebnis der Volksabstimmung freut.

Immer wieder ist in letzter Zeit gesagt worden, wegen des Streits um S 21 brauche die Stadt einen Brückenbauer als OB. Wären Sie einer, der auch konservative Kreise erreicht?
Grundsätzlich ja. Manche halten mich für einen Linken. Ich bin es aber nicht. Ich arbeite beruflich mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Kreisen, weil bei meinen Projekten unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Motiven zusammenkommen. Manchmal aber, und da sind wir bei Stuttgart 21, ist der große Burgfrieden nicht gleich möglich. An den Streitfragen bei S 21 muss weiter gearbeitet werden. Wenn dann ein gerechtes Ergebnis vorliegt, würde ich dieses auch dann akzeptieren, wenn es nicht meiner politischen Überzeugung entspräche. Im Moment gibt es dieses faire Ergebnis nach meiner Überzeugung aber noch nicht.

Wo stehen Sie unter den OB-Bewerbern? Müssen wir Sie als Spaßkandidat oder ernsthaften Anwärter aufs OB-Amt betrachten?
Spaßkandidaturen im Sinne von symbolischen Bewerbungen oder eines künstlerischen Akts, um Themen bekannt zu machen, darf es geben. Ich bewerbe mich aber mit absoluter Ernsthaftigkeit. Ich biete mich den Wählern an mit dem, was ich bin und tue, um das Amt zu bekleiden.

"Die Vormachtstellung der Parteien ist stark angegriffen"

Wer soll Sie wählen? Spekulieren Sie auf die 27 000 Unterzeichner, die die Bürgerbegehren in Sachen Wassernetz und Stadtwerke tragen?
Meine Chancen sind schwer einzuschätzen. Aber zurzeit gibt es einen reellen Raum für parteilose Kandidaten in Stuttgart. Sicher setze ich auf die Menschen aus allen politischen Lagern, die bei den Bürgerbegehren konsequent für eine komplett kommunale Energieversorgung eintraten. Ich bin, zumindest bis jetzt, der einzige OB-Kandidat, der die europaweite Ausschreibung im Wettbewerb der Stuttgarter Netze für Gas und Strom konsequent ablehnt, weil damit das Selbstverwaltungsrecht der Kommune unterlaufen würde.

Auf wen zählen Sie noch unter den Wählern?
Unterstützung erhoffe ich mir auch von denen, die mein Engagement gegen windige Bankgeschäfte und Scheingeschäfte wie das Cross-Border-Leasing schätzten. Von Leuten, die vergleichbare Ideen für die Stadtentwicklung haben und wie ich die Selbstbestimmung der Bürger, etwa durch Volksentscheide auf Bundesebene, verfechten.

Sie sind S-21-Kritiker. Ihr Mitbewerber Hannes Rockenbauch ist Galionsfigur der S-21-Gegner im Aktionsbündnis. Wie gehen Sie damit um?
Es gibt durchaus auch unter den S-21-Kritikern verschiedene Meinungen und Unterschiede. Ich war, um ein Beispiel zu geben, vor der Volksabstimmung aus verschiedenen Gründen ein Gegner speziell dieser Volksabstimmung. Hannes Rockenbauch war ein begeisterter Fürsprecher. Grundsätzlich finde ich es legitim und richtig, dass sich auch mehrere Kandidaten bewerben, die gegen S 21 sind, warum nicht?

Wie werden sich die Umbrüche durch S 21 am Wahlabend am 7. Oktober niederschlagen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass kein Parteienkandidat im ersten Wahlgang eine ausreichende Mehrheit bekommt. Die Vormachtstellung der Parteien ist stark angegriffen. Das Thema S 21 machte deutlich, wie die Parteien nach den Wahlen schielen und deswegen taktieren. Besonders der Heiligenschein von Grün-Rot hat seit der Landtagswahl schwer Schaden genommen und die Glaubwürdigkeit der Parteien ist erschüttert. Das wird auf alle durchschlagen, vielleicht mit Ausnahme der Piratenpartei.

Die bürgerlichen Parteien und die SPD operieren doch mit parteilosen Kandidaten. Oder sind das eigentlich Parteikandidaten mit der Maske des angeblich normalen Bürgers?
Ja, ich sehe darin sogar eine Art von Täuschung. Die Parteien wollen mitschwimmen auf der Welle der neuen Parteilosigkeit. Aber natürlich nominieren CDU und SPD nur jemanden, der in ihrer Spur ist - und auch voraussichtlich in der Spur bleiben wird.