Die Industrie 4.0 kommt in der Praxis in kleineren Schritten voran, als die Visionen der IT-Firmen und Maschinenbauer vermuten lassen. An Daten, die man nutzen will, muss man erst heran.
Stuttgart - Auf Industriemessen und auf Podiumsdiskussionen wird die voll digitalisierte Fabrik heute schon ausgemalt: Nahtlos fließen dort Daten von den Maschinen bis zum Logistiklager, von der Fabrik ins Internet – und wieder zurück. Doch hier dominiert die Perspektive der IT-Firmen und der Maschinenproduzenten, die ihre neuesten Produkte an den Kunden bringen wollen.
Aber in den Fabrikhallen stehen heute Maschinen, die weder von den Sensoren noch von den IT-Programmen auf diese Datenwelt ausgelegt sind. Und im Gegensatz zu der von schnellen Updates geprägten IT-Welt dauert hier es schon einmal 15 Jahre bevor eine solche Produktionsstraße ausgetauscht wird.
Heute kommt man an die Daten oft nicht heran
Heute scheitert also der Schritt in die Datenwelt oft schon daran, dass man an die Daten erst gar nicht herankommt und sie dann in einem zweiten Schritt erst einmal aussieben muss, um sie verwerten zu könnten. „Nur wegen Industrie 4.0 wird niemand diesen Investitionszyklus verkürzen. Die neuen Technologien werden Schritt für Schritt eingeführt“, sagte vor kurzem Robert Bauer, der Chef des vom Sensoren-Boom eigentlich profitierenden, baden-württembergischen Herstellers Sick im Gespräch mit dieser Zeitung.
Die Industrie 4.0 beginnt deshalb mit kleineren Schritten - mit Übergangstechnologien. Während die Maschinenbauer an den Maschinen der Zukunft arbeiten, verdienen andere Anbieter ihr Geld sozusagen mit technologischen Prothesen, die erst einmal die vorhandenen Daten überhaupt abgreifen, ohne gleich eine zusätzliche Sensorik zu benötigen.
„Produktionsdaten verlassen bisher praktisch nie die Anlagen, in denen sie entstehen“, sagt Sebastian Schmerl vom IT-Dienstleister Computacenter. „Und das ist ein großes Problem, denn es gilt nicht umsonst: Keine Daten – keine Analyse.“ Das Unternehmen bietet einen so genannten Produktionsdatenextraktor an. Auch andere Firmen haben Technologien, die Maschinendaten auswerten und übersetzen.
Oft weiß man nicht, welche Information in den Maschinen steckt
Damit holt man die Daten heraus, ohne in Anlagen einzugreifen oder diese umkonfigurieren zu müssen. Sonst würde die Gewährleistung des Herstellers gefährdet. Anstatt, wie in der Vision der Industrie 4.0., die Maschine ins Internet zu bringen, reicht also erst einmal ein Auslesegerät, das bewusst als Einbahnstraße angelegt ist. Den visionären Anspruch, die Datenauswertung gleich zurück in die Maschine zu speisen, braucht es erst einmal nicht. Damit ist auch das heikle Thema Datensicherheit leichter im Griff. Schon die Daten überhaupt auslesen und verwerten zu können, ist ein großer Schritt. Denn bevor man anfängt, Informationen in die Maschine zurückzufüttern, muss man erst wissen, welche Daten es gibt. Die meisten Kunden seien heute noch an dem Punkt, wo sie überhaupt erst herausfinden müssen, was in ihrem Produktionsprozess an relevanten Daten anfällt.
„Man muss erst mal die Daten kennen, bevor man seriöse Auswertungen und Prognosen erstellen kann,“ sagt der Experte. „Mittelständische Unternehmen müssen nicht in einem Schritt komplexe und kostenintensive Industrie 4.0-Lösungen umsetzen, um von der Vorteilen der Digitalisierung zu profitieren“, schreibt auch die Beratungsgesellschaft PwC in einer aktuellen Studie zur Industrie 4.0.
In der Praxis ist es dabei erst einmal gar nicht nötig, ja nicht einmal erwünscht, überall mit Sensoren zusätzliche Informationen zu sammeln. „Die Hemmschwelle beginnt schon mit der zusätzlichen Verkabelung, die sie dann brauchen“, sagt Schmerl. „Sie fangen lieber eine Etage tiefer an und verwerten, was sie schon haben.“ Angesichts von mehr als einem Dutzend unterschiedlicher IT- und Datenstandards im Maschinenbau gehe es heute zunächst erst einmal darum „das Vorhandene auseinander zu puzzeln“, wie Schmerl es ausdrückt. Da könne man nicht warten, bis einmal die Standards der Zukunft etabliert seien.
Ganze Produktionsanlagen durchschaut nur der Nutzer
Während Maschinenbauer den Kunden heute schon sehr gut erzählen können, was einzelne, neue Maschinen an Vernetzungspotenzial bieten, geht es in der realen Produktion oft um komplexe und vor allem ältere Anlagen. Der Verschleiß einer Anlage ist beispielsweise von deren konkreter Funktion im Produktionsprozess abhängig.
„Da ist die Vorhersage nicht so leicht, denn fast jeder Kunde besitzt eine individuell auf ihn zugeschnittene Anlage mit vielen abgestimmten Komponenten“, sagt Schmerl: „Die Krux bei neuen Anlagen ist, dass sie vorab spezifizieren müssen, welche Daten sie später haben wollen. Wenn sie heute die Drehzahlen interessieren, dann ist es morgen vielleicht die Temperatur.“
Fabrikbetreiber stecken hier und heute noch mitten in einem Lernprozess – und da wollen sie die Risiken begrenzen. „Sie können heute schon mit kleinen Anwendungsfällen Effizienzgewinne von zehn bis 20 Prozent erzielen“, sagt Schmerl. Die Kunden möchten, dass sich die Investitionen schnell amortisierten. Der Experte ist sich deshalb sicher, dass Übergangstechnologien noch über Jahre ihren Markt haben werden.