Jetzt ist wieder Besen-Zeit. Foto: dpa

Heute liefern wir den 86. Grund, warum wir Stuttgart lieben: Das urige Verhocken im Besen.

Die Rente mit 67 ist eine Zumutung. So ein Konzept kann nur ein Nordlicht aushecken. So radikal in die Lebenspläne der Schwaben einzugreifen ist ein Skandal. Jahrzehntelang sehnen wir uns danach, endlich im Besen frühstücken zu können. Beim Schichtwechsel um 18 Uhr begegnen wir uns immer: Wir nüchterne Arbeitnehmer und jene fröhlichen Rentner mit rosiger Gesichtsfarbe, die sich beim Heimgehen zurufen: Morga wieder um Elfe! Das muss das Paradies sein, ein Viertele zum Frühschoppen, Schlachtplatte oder Bubaspitzle zum Mittagessen, dazu ein Viertele, ein Viertele zum Nachtisch, eines zum Kaffee und eines auf den Heimweg. Und so gesund, Sauerkraut putzt durch, Rotwein lässt das Herz besser durchbluten. Lemberger statt Pillen, da könnte sich das andere Nordlicht glatt seine Gesundheitsreform sparen.

Und nun? Zwei Jahre länger warten. Aus der kulinarischen Diaspora Hannover kommend, in der kulinarischen Diaspora Berlin regierend, kennt Frau von der Leyen keine Besenwirtschaften. Erfunden hat sie Karl der Große. Er erlaubte 791, dass die Wengerter den Wein, den sie nicht dem Adel abliefern mussten, direkt verkaufen durften. Sie zeigten dies durch einen Kranz aus Weinlaub. Im Schwäbischen ist daraus ein Besen geworden. Wir wollen das nicht küchenpsychologisch ergründeln. Nur so viel, ein sauberer Rausch war dem Schwaben seit jeher so viel wert wie eine saubere Kandel. Zumal einst der Wein gesünder war als das mit Bakterien verseuchte Wasser. Lieber Schädelweh als Ranzenweh.

5000 Besenwirtschaften gab es einst in Württemberg. In den sechs Wochen, die sie offen hatten, leerten sie ihre Fässer. So gab's halt Trollinger, der Durst trieb's rein, die Qualität kümmerte kaum. Das hat sich geändert. In den gut 40 Besen in Stuttgart gibt's natürlich offenen Wein, aber bei fast allen kann man probieren, was die Wengerter auf Flaschen abfüllen.

Wer sich unsicher ist, was er trinken soll, wendet sich an einen Experten. Den gibt es in jedem Besen. Er ist leicht zu erkennen an seinem Zinken. Der Schwabe schmeckt den Wein auch mit der Nase. Folgerichtig muss die groß sein, die Durchblutung zeigt den Grad der Kenntnis des Experten an. Und man habe bloss keine Scheu zu fragen. Zwar sitzt man nur noch selten im Wohnzimmer der Wirtsfamilie, aber auch im Gastraum darf man einem Schwaben näherkommen. Im Besen gelten andere Regeln: Verheiratete fallen sich in die Arme - auch wenn die Ehepartner zu Hause sitzen. Und man hat dort sogar schon Pietisten schmunzeln sehen.