Die fünf frühreformatorischen Flugschriften des Sebastian Lotzer lassen nach Heide Ruszat-Ewig erkennen, dass er wohl der alleinige Verfasser der Zwölf Artikel war. Seine erste frühreformatorische Flugschrift richtete Lotzer an seine Landsleute, die "ynwoner zu horw". Foto: Schwarzwälder Bote

Welttag des Buches: Heide Ruszat-Ewig übertrug die bedeutende Schrift des Bauernkriegs in heutiges Deutsch

Nachdem Heide Ruszat-Ewig vor drei Jahren die fünf frühreformatorischen Flugschriften des Sebastian Lotzer in unser heutiges Deutsch übertragen hat, legt sie nun mit einem weiteren Sonderheft der Memminger Geschichtsblätter eine Übertragung der "gründlichen und rechten Hauptartikel aller Bauernschaft und Hintersassen der geistlichen und weltlichen Oberkeiten, von welchen sie sich beschwert vermeinen" vor.

Horb. In ihrer Einleitung führt Heide Ruszat-Ewig dabei stichhaltige Gründe für Lotzers alleinige Verfasserschaft der Zwölf Artikel auf.

Der derzeitige jämmerliche Zustand des Sebastian-Lotzer-Platzes, der mehr ein Plätzle als ein Platz ist, versinnbildlicht augenscheinlich das stiefmütterliche Verhältnis, das die Neckarstadt zu ihrem wohl größten Sohn besitzt. Im völlig verschlafenen Jubiläumsjahr 1990, in dem man Lotzers 500. Geburtstag hätte feiern können, beschloss der ehrbare Horber Stadtrat mit Hängen und Würgen, ein paar Quadratmeter im Einmündungsbereich des Mühlgässles in die Neckarstraße zum Sebastian-Lotzer-Platz zu machen. Als nach Errichtung neuer Ampeln am klitzekleinen Plätzchen das Schild mit der Aufschrift Sebastian-Lotzer-Platz von der Bildfläche verschwunden war, krähte in Horb lange Zeit kein Hahn danach, bis der Kultur- und Museumsverein diesen betrüblichen Umstand publik machte. Nach wochenlangem Suchen, fand sich das verloren gegangene Straßenschild dank der Hilfe des Heiligen Antonius schließlich in einer Ecke des städtischen Bauhofs.

Staßenschild zunächst der einzige Hinweis auf Lotzer in Horb

Das Straßenschild war zur Jahrtausendwende neben der vom Kultur- und Museumsverein initiierten Lotzer-Vitrine im Stadtmuseum der einzige Hinweis, der die Bewohner und die Besucher von Horb an diesen bedeutenden Sohn erinnerte. Erst nach viereinhalbjähriger Kugelfuhr um Bildhauer, Standort, Inschrift und Form des Monuments konnte im Jahr 2006 wiederum auf Initiative des Kultur- und Museumsvereins das Sebastian-Lotzer-Denkmal an der Kehre der Wintergasse beim Aufgang zum Kloster enthüllt werden. Die Errichtung des Denkmals erfolgte mit Unterstützung des Historikers Gerhard Raff, des Bildhauers Markus Wolf und des Sponsors Dietrich Aldinger.

Leider Gottes ist politische Traditionsbildung für viele Menschen im Zeitalter von Dschungelcamp oder anderen Events, die der hohle Zeitgeist hervorgebracht hat, kein Thema. So strömten im 475. Jubiläumsjahr der Zwölf Artikel zu den Maximilian Ritterspielen rund 50 000 Besucher in die Neckarstadt, während sich zu dem vom Projekt Zukunft veranstalteten Vortrag über die Befreiungstheologie des Sebastian Lotzer nicht einmal ein Dutzend aufmerksame Zuhörer im Horber Kloster einfanden. Die Tatsache, dass sich ausgerechnet die Stadt Horb mit einem Spektakulum der besonderen Art dem Lebensstil des Ritterstandes verschrieben hat, der den Gemeinen Mann nach Lotzers Worten einst unbarmherzig "geschunden und ausgebeutet" hat, gehört bestimmt mit zu den besseren Treppenwitzen der Geschichte.

Die Verfasserschaft der im Frühjahr des Jahres 1525 anonym gedruckten Zwölf Artikel war in der historischen Forschung lange Zeit umstritten. Als mögliche Autoren galten neben dem gelernten Kürschner Sebastian Lotzer, der Memminger Prädikant Christoph Schappeler, der Bauernkanzler Wendel Hipler, der Sernatinger Pfarrer Johann Hüglin sowie der Waldshuter Pfarrer Balthasar Hubmayer. Am wenigsten traute man die Autorenschaft Lotzer zu, da es ihm als Handwerker wohl an der dazu nötigen Gelehrtheit gefehlt haben dürfte. In Lotzers Familie war aber die akademische Bildung verbreitet. Sowohl der Vater als auch zwei seiner Brüder besuchten die Universität Tübingen. Seinen frühreformatorischen Flugschriften kann man entnehmen, dass Lotzer bewusst auf ein Universitätsstudium verzichtete und sich dabei auf Martin Luther stützte, der vernichtend über die Sophisten und ihre hohen Schulen sprach.

Martin Luther war für Lotzer das große Vorbild

Für Sebastian Lotzer war der Wittenberger Reformator das große Vorbild, dessen reformatorische, als ketzerisch verbotene Lehre er in seinen fünf frühreformatorischen Schriften verteidigte und über die Grenzen Memmingens hinaus bewarb. Als kämpferischer Flugschriftenautor war Lotzer bei den reichsstädtischen Bauern bekannt, die sich an den bibelkundigen Laientheologen wandten, um ihre Beschwerden in schriftlicher Form dem Memminger Rat vorzubringen. Aufgrund der Artikel der Memminger Bauern wurde Huldrich Schmid von Sulmingen, der als Hauptmann des Baltringer Haufens in der evangelischen Reichsstadt nach Beratern für die Sache der Bauern suchte, auf Sebastian Lotzer aufmerksam, der nach einigem Zögern das Amt des Feldschreibers annahm.

Beim ersten im März 1525 abgehaltenen Bundestag der drei oberländischen Bauernhaufen, dessen Vertreter sich in der Stube der Kramerzunft am Memminger Weinmarkt versammelt hatten, vertrat Lotzer das Prinzip der Gewaltfreiheit und beteiligte sich federführend an der Bundesordnung der Christlichen Vereinigung sowie der Abfassung der Zwölf Artikel. Für Heide Ruszat-Ewig ist der Text der Bauernartikel, der aus einer Präambel, elf Forderungs- und Beschwerdeartikeln sowie einem Beschluss besteht, aus einem Guss. Die theologischen Aussagen in seinen fünf frühreformatorischen Flugschriften und die in ihnen deutlich zum Ausdruck gebrachte gemeindeorientierte Haltung sowie seine evangelischen Überzeugungen und Glaubensstandpunkte lassen Lotzer Ruszat-Ewigs Meinung nach als alleinigen Autor der Zwölf Artikel erkennen.

Der programmatische Durchbruch und die Steigerung des Bauernaufstands zur Revolution steckte im dritten Artikel, der an dieser Stelle in neuer Übertragung wiedergegeben werden soll: "Es ist bisher der Brauch gewesen, dass uns die Herren für ihre Leibeigene gehalten haben. Das ist zum Erbarmen, angesichts dessen, dass uns Christus alle mit seinem kostbaren Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten ebenso wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Daher ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind, und das wollen wir sein. Aber nicht, dass wir ganz und gar frei sein und keine Obrigkeit haben wollen, das lehrt uns Gott nicht. Wir sollen nach Geboten leben, nicht nach unserem freien fleischlichen Eigensinn, sondern Gott lieben, ihn als unseren Herrn in unserem Nächsten erkennen und alles tun, was auch wir gern hätten und was uns Gott in seinem Abendmahl zuletzt geboten hat. Darum sollen wir nach seinem Gebot leben. Aber zeigt und weist uns dies Gebot an, der Obrigkeit nicht gehorsam zu sein? Doch nicht allein der Obrigkeit, sondern jedermann gegenüber sollen wir demütig sein. So wollen wir auch gegenüber unserer gewählten und eingesetzten Obrigkeit, die uns von Gott eingesetzt ist, in allen rechtlich verpflichtenden und christlichen Sachen gern gehorsam sein. Wir haben auch keinen Zweifel, ihr werdet uns in der Eigenschaft als wahre und rechte Christen gern aus der Leibeigenschaft entlassen oder uns durch das Evangelium belehren, dass wir Eigenleute seien."

I m dritten Artikel wird die Abschaffung der Leibeigenschaft gefordert

Der biblisch-radikale dritte Artikel forderte die Abschaffung der Leibeigenschaft. Die Freiheit und menschliche Würde ist das erste und elementare Menschenrecht, das in der biblischen Gotteserfahrung fußt, und wird von Lotzer gleich dreifach begründet: Theologisch mit dem Bezug auf den Erlösertod Christi, naturrechtlich im Hinblick auf die Schöpfungsordnung und ethisch mit dem Verweis auf die Nächstenliebe. Dieser im Evangelium begründete Freiheitsbegriff der Zwölf Artikel findet sich erst mehr als 250 Jahre später in den Schlagworten der Französischen Revolution wieder: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Die in den Zwölf Artikeln geforderte Freiheit erklärte folgende Statusmerkmale für alle Menschen als unabdingbar: Freizügigkeit, Ehefreiheit und freie Verfügung über das Eigentum. Eine Freiheit, die für uns heute nach fast 500 Jahren mehr oder weniger selbstverständlich ist.

Eine politische Würdigung haben die Zwölf Artikel allerdings erst nach 475 Jahren durch den Bundespräsidenten Johannes Rau erfahren, der im März 2000 in einer Festrede auf der wuchtigen Kanzel der Memminger Martinskirche die Flugschrift des Sebastian Lotzer von Horb zu einem weiteren Bezugspunkt der politischen Traditionsbildung des demokratischen Deutschlands erklärt hat. Nach Rau enthalten die Zwölf Artikel im Kern die Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte. Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 in Artikel 1 die Würde des Menschen für unantastbar erklärten, sei dies ein fernes Echo der Bauernartikel von 1525 gewesen.

Die Zwölf Artikel, deren Erstausgabe im März 1525 bei Melchior Ramminger in Augsburg gedruckt wurde und von denen sich mindestens 27 weitere Druckauflagen in Windeseile über ganz Mitteleuropa verbreiteten, trieben ganz Oberdeutschland in die Anarchie. Der Schwäbische Bund und die Landesfürsten setzten ihre Heere in Marsch, während von den Bauern die Klöster eingenommen und die Burgen niedergebrannt wurden. In großen Wellen rollte der Aufstand von den Alpen bis zum Harz und vom Elsass bis ins Salzburger Land. Zu den Bauern gesellten sich auch die Bürger der Städte und aus den bäuerlichen Anfängen war eine Empörung des Gemeinen Mannes geworden, die als Bauernkrieg in die Geschichte eingegangen ist.

Die gemeinschaftliche Erhebung der Bauern und kleinen Leute zum aufrechten Gang als freie Menschen war aber kein Aufstand halbverhungerter Unterschichten, sondern die Empörung von Leuten, die wie Sebastian Lotzer über Selbstbewusstsein verfügten. Sie wurde in erster Linie nicht von den Armen und Deklassierten getragen, sondern in den Städten von der Handwerkerschaft und auf dem Lande von der Dorfehrbarkeit, die die himmelweite Diskrepanz zwischen ökonomischer Bedeutung und dem geringen politischen Gewicht des Handwerker- beziehungsweise Bauernstandes am deutlichsten empfand.

Zwölf Artikel sind Monument der deutschen Freiheitsgeschichte

Die Zwölf Artikel sind ein Monument in der deutschen Freiheitsgeschichte. Sie erinnern daran, dass Freiheit sich nicht von selber versteht, sondern dass sie ersehnt, erkämpft und verteidigt werden muss. Zu Papier gebracht hat sie vielleicht ein Horber, der sich in Memmingen immer wohl informiert über die Vorgänge in seiner Vaterstadt zeigte und sich meist ausdrücklich Sebastian Lotzer von Horb nannte. Lotzers Fügung war es, während eines entscheidenden Wimpernschlages der deutschen Geschichte auf der Seite der Verlierer gestanden zu haben, denen in der Geschichte selten Gerechtigkeit widerfährt, denn diese wird in der Regel nur von den Siegern geschrieben.

Vielleicht ist Sebastian Lotzer auch deshalb in seiner Heimatstadt ein verlorener Sohn geblieben, der immer noch nicht die Anerkennung gefunden hat, die ihm eigentlich schon lange gebührt. Dass Horb die Geburtsstadt eines Mannes ist, aus dessen Feder eine Flugschrift stammt, in der sich am Beginn der Neuzeit ein klarer politischer Wille, eine überlegte soziale Programmatik sowie ein klares Verständnis von freien Menschenrechten die Bahn brachen, hat sich noch nicht einmal unter den Professoren der Landeshauptstadt oder der Universitätsstadt Tübingen herumgesprochen. Dies belegte die Ausstellung anlässlich des letztjährigen Reformationsjubiläums im Stuttgarter Kunstgebäude, wo nur von "Sebastian Lotzer aus Memmingen" oder dem "Memminger Kürschnergesellen Sebastian Lotzer" die Rede war.

Solange aber in Lotzers Geburtsstadt bei den Stadtoberen allein nur die Ritterspiele Vorrang genießen, wird sich an diesem Umstand wohl auch nicht viel ändern. In jüngster Zeit präsentiert sich das Tor zum Allgäu mit dem Slogan "Memmingen – Stadt der Menschenrechte", was vor allem mit der neuen Wahrnehmung der Zwölf Artikel und dem Memminger Freiheitspreis 1525 zusammenhängt. Wäre das nicht auch eine gewitzte Idee für das Horber Stadtmarketing, wenn man das Tor zum Schwarzwald zum Geburtsort der Menschenrechte macht?

Das Buch: Heide Ruszat-Ewig: Die 12 Bauernartikel – Flugschrift aus dem Frühjahr 1525, Memminger Geschichtsblätter Sonderheft, Hrsg. Historischer Verein Memmingen e. V., Memmingen 2018