Rauch und Staub steigen in Manhattan nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York auf. Foto: New York City Police/epa/ABC NEWS / HO/dpa

Wie aus den Terroranschlägen am 11. September 2001 das politische Ereignis "9/11" wurde beschäftigt den Historiker Philipp Gassert. Wir sprachen mit ihm über sein spannendes neues Buch "11. September 2001. 100 Seiten".

Oberndorf - In seiner neuen Publikation stellt Philipp Gassert, Amerikanist und Professor für Zeitgeschichte und Dekan der Universität Mannheim, in ebenso prägnant formulierten wie spannend zu lesenden 100 Seiten die Ursachen, Reaktionen und Folgen des Anschlags auf das World Trade Center am 11. September 2001 dar. Gassert zeigt, wie das Ereignis in zwanzig Jahren Wirkungsgeschichte zu der Zäsur wurde, als die es heute wahrgenommen wird.

Herr Gassert, in ihrem neuen Buch schildern sie den Terroranschlag selbst auf weniger als fünf Seiten, widmen aber den Ursachen- und Wirkungsgeschichten je etwa das Zehnfache an Platz im Buch. Wie ist diese Gewichtung zu verstehen?

Der Terroranschlag an sich ist nicht das, was den 11. September zu dem historischen Wendepunkt gemacht hat, so wie wir es heute rückblickend wahrnehmen. Es waren spezifische Reaktionen der US-Regierung, die diesen Anlass genutzt hat, um eine viel umfassendere politische und kriegerische Reaktion zu entfesseln. Aus diesem Grund trenne ich das Phänomen 9/11 auch vom Ereignis des 11. Septembers, denn 9/11 ist, was aus dem Vorfall gemacht wurde.

Wie können diese Unterscheidung zwischen 11. September und 9/11 auch Nicht-Historiker verstehen?

Nehmen wir das Beispiel Trump: Es ist nicht so, dass zwei in das World Trade Center stürzende Flugzeuge automatisch für eine Präsidentschaft Donald Trumps gesorgt haben, aber das daraus entstandene Ereignis 9/11 mit seiner tiefen Kränkung der amerikanischen Seele, vor allem durch die misslungenen Reaktionen der Bush-Administration, ermöglichten den Aufstieg eines Populisten, der "Make America Great Again" zu seinem Wahlspruch nahm. Trumps Erfolg bei den Wählern basierte hierbei auf seinen Bekenntnissen zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – sowohl gegenüber dem Ausland als auch als Abgrenzung zur Obama-Administration. Und vor allem gab Trump Veteranen, welche die aus 9/11 entfesselten Irak- und Afghanistan-Kriege auf ihrem Rücken getragen haben, das Versprechen einer "splendid isolation". Diese von Trump adressierten Leute haben keine Lust mehr auf den Krieg, sondern auf eine Abschottung bei gleichzeitigem Wohlstand. Unter diesen Gesichtspunkten verhandelte dann Trump auch mit den Taliban um einen Rückzug.

Solchen Isolationisten fehlt dann auch gerne die Bereitschaft sich in die andere Seite hinein zu versetzen und ihr zuzuhören. Das spiegelt sich ja auch in vielen heutigen politischen Diskussionen wieder – hatte hier 9/11 auch zu einem Schwarz-Weiß-Denken geführt? Etwa, dass das eigene Heimatland per se recht hat und zuerst dran kommt?

Bush sagte "You are with us or you are against us". Das Schwarz-Weiß-Denken und absolute Feindbilder sind in Amerika traditionell etwas stärker ausgeprägt als in Europa, und in der Zeit nach dem 11. September wurden Zwischentöne vermehrt ausgemerzt. Damit hat sich eine bis heute fortschreitende Spaltung verschärft, die auch im Medienwandel eine Rolle spielt und die vor allem Verschwörungstheorien Vorschub lieferte. Allerdings sprechen wir Historiker in den meisten Fällen eher von Verschwörungsnarrativen oder Verschwörungserzählungen, da der Ausdruck Theorie vermeintlich beinhaltet, dass man es mit einer wissenschaftlich-logischen Argumentation zu tun hat.

Erfrischend ist, wie Sie immer Querverweise auf Filme und Musik ziehen. Diese sind im Buch immer knapp aber greifbar eingestreut. Filme wie "Black Hawk Down" finden hier ebenso Erwähnung wie Bruce Springsteens Album "The Rising".

Diese fiktionalen Formate haben eine unglaubliche Kraft, um Geschichte zu verbildlichen, kollektive Erinnerungen zu kreieren und auch derlei Ereignisse zu bewältigen. Auch für Historiker sind diese Filme und Musik daher relevante Untersuchungsobjekte.

Die Überschrift "Nous sommes tout Américains", mit der die große französische Zeitung Le Monde am Tag nach dem Anschlag titelte, findet immer wieder Erwähnung in ihrem Buch. Sie sprechen dort von einem (kurzen) Moment humanitärer Solidarität. Hat der Westen nach dem 11. September verpasst zu fragen: "Was läuft schief, dass sich junge Männer zu solchen Gräueltaten radikalisieren?" und sich stattdessen in Vergeltungskriege gestürzt?

Natürlich sind die Anschläge Verbrechen, deren Hintermänner verfolgt und gerichtlich bestraft gehören. Es ist auch nicht das erste Mal, dass damals die amtierende Generation Terroranschläge erlebt gehabt hatte. Terroristische Angriffe gab es in Deutschland durch die R.A.F., in Amerika durch den Domestic Terrosim, wie mit dem Anschlag in Oklahoma City. Die Regierung Bush hat jedoch nicht polizeilich, sondern militärisch mit dem größtmöglichen Hammer reagiert und wollte mit Saddam Hussein militärisch die offene Rechnung von 1991 begleichen. Die USA konnten in ihrer Supermachtstellung zu jener Zeit so reagieren – einem Land wie der Bundesrepublik wäre so etwas ja gar nicht möglich. Durch diese Aktionen kam es dann zu den bis heute spürbaren Fehlentwicklungen, unter denen noch viel mehr Menschen ihr Leben verloren als durch die Anschläge selbst.

Hat 9/11 die Grundlage für Alleingänge der USA geschaffen, deren Häufigkeit bis heute weiter zunimmt?

Wenn man sich die Geschichte ansieht, gab es immer unilaterale Aktionen seitens der USA, hier einen Anfang zu suchen, liegt viel weiter zurück. Ich würde an dieser Stelle sogar lieber klarstellen wollen, dass die USA ja durchaus auch Unterstützer und Verbündete benötigt hatten, wie England, Spanien und Italien, um im Irak einzumarschieren. Der Angriff folgte ja durch diese notwendige politisch-diplomatische Rücksicht erst im März 2003, obwohl dies unmittelbar nach dem Anschlag von Bush angekündigt wurde.

Sehen Sie bei der alternativlos dargestellten Reaktion, den Irak zu bombardieren auch eine Wurzel der zusehends grassierenden Schwarz-Weiß-Diskussionskultur in der heutigen Politik, bis hin zur Unverhandelbarkeit?

Es gab im Westen eine Spaltung aufgrund der Befürwortung oder Ablehnung des Irak-Einsatzes. Doch zunächst war die Solidarität ja überaus groß, wie mit dem besagten Zeitungstitel "Nous sommes tous Américains", auch die FAZ formulierte seinerzeit übrigens ähnlich. Diese Solidarität war durch das menschliche Entsetzen sehr groß. Die amerikanische Regierung nutzte den Terroranschlag für einen Krieg gegen den Irak, der heute bekanntermaßen nichts mit dem 11. September zu tun hatte. Ganz im Gegenteil war das Regime Saddam Husseins sogar ein erklärter Gegner von Al-Kaida – und umgekehrt. Die daraufhin folgende Spaltung des Westens vollzog sich nicht nur zwischen Amerika und England auf der einen sowie Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite, sondern zog sich auch quer durch die amerikanische Gesellschaft.

Was hat Sie bewogen, dieses Buch nun nach 20 Jahren zu schreiben?

Mein Alleinstellungsmerkmal ist es, auf die Ursachen und Folgen hinzuweisen, sowohl auf amerikanischer als auch arabischer und muslimischer Seite. Es geht um den Imperialismus in diesem Raum. Außerdem ist es eine typische Historikerkrankheit, nicht nur zu fragen "was hat es ausgelöst, was sind die Folgen?" sondern auch zu ergründen, wie es zu einem Ereignis aufgrund vorher angelegter Pfade kommt. Die Akteure denken und reagieren ja in Pfaden und Weltbildern und entscheiden deshalb zum Teil Dinge, die man hundert Jahre später so erst einmal nicht verstehen kann, ohne das damalige Selbstverständnis zu ergründen.

Wäre es nach zehn Jahren schon möglich gewesen sich als Historiker zu den Nachwirkungen des 11. Septembers zu äußern?

Nein, vor zehn Jahren, also zur Zeit Barack Obamas, hatte sich an der Grundstruktur der Welt noch nichts Wesentliches geändert. Ein Forschungsstand der transformativen Wirkungen kann erst mit der Distanz festgestellt werden. Ähnliches gilt ja auch für die Pandemie derzeit. Doch führte 9/11 unter anderem zu Trump und unter Trump änderte sich vieles. Die Hybris der Bush-Administration, der Welt beweisen zu wollen wie stark die Vereinigten Staaten sind, und damit den Anspruch als Hypermacht für weitere Generationen beibehalten zu wollen, sorgte für die Entwicklungen in welcher man den 11. September als Anfang des Endes der amerikanischen Vormachtstellung sehen könnte.