Gericht: Frau aus Hechingen wegen Diebstahls verurteilt

Wegen Diebstahls stand eine Frau aus Hechingen vor Gericht – es ging um zwei Vliese im Wert von rund 20 Euro. Als die Angeklagte erzählt, weshalb sie auch in der Vergangenheit schon mehrmals gestohlen hat, kommt eine tragische Lebensgeschichte zum Vorschein.

Hechingen. Der Wert der Gegenstände, die die Frau im November 2018 aus einer Kauflandfiliale in Hechingen zu entwenden versuchte, ist niedrig: 19,98 Euro hätten die zwei Vliese gekostet. Trotzdem musste sie vor dem Amtsgericht Hechingen für ihre Tat Verantwortung übernehmen.

Gleich zu Beginn der Verhandlung räumte die Angeklagte die Tat ein und entschuldigte sich dafür. Auf die Frage, warum sie ausgerechnet zwei Vliese klauen wollte, antwortete die 64-Jährige: "Es ist egal, was es ist." Ob sie beim Klauen erwischt werden wolle, wollte Richter Desmond Weyl noch wissen und traf mit der Frage ins Schwarze: "Ich möchte bestraft werden", gestand die Angeklagte. Doch im Grunde, dies wurde im Verlauf des Verfahrens deutlich, hatte die Angeklagte noch versucht, ihren eigenen Diebstahl zu verhindern. Da es ihr nicht gut ging an diesem Abend hatte sie ihren Mann gebeten, sie zu begleiten – um aufzupassen.

Als Kind regelmäßig geschlagen

Die Frau las eine Erklärung vor, in der sie Angaben über ihre Lebensgeschichte machte. Als es um die traumatischen Erlebnisse in ihrer Kindheit ging, las die Anwältin weiter – der als Krankenschwester arbeitenden Frau kamen die Tränen. Sie wurde in Kasachstan geboren, wo ihre Eltern sie bereits im Alter von sechs Monaten zu einer Tagesmutter gaben um selbst arbeiten zu gehen.

Als sie ein Jahr alt war, verbrachte die Angeklagte bis zur Einschulung sechs Tage die Woche in einem Kinderwochenheim, in das auch ihre jüngere Schwester gebracht wurde. Dort erlebten die Kinder Übergriffe durch die Erzieher, wurden körperlich und seelisch misshandelt. Sie seien unter anderem bestraft worden, indem sie bei Mahlzeiten kein Essen bekamen oder Erbrochenes wieder essen mussten, so die Schilderungen der Angeklagten. Nicht mal nachts blieben ihnen Schikanen erspart: "Wer im Schlafsaal hustete, musste sich zwei Stunden auf den Flur stellen." Sie wurden regelmäßig geschlagen.

Als die Angeklagte in die Schule kam, besserte sich ihre Lebenssituation nicht: Auch in der eigenen Familie wurden die Geschwister misshandelt. "Mir wurde das Gefühl vermittelt, wertlos zu sein." Ihre Eltern hätten sie zur Strafe für unliebsames Verhalten stundenlang im Keller eingesperrt oder sie nackt auf Salzkristallen laufen lassen. "Die Narben in meiner Seele bleiben für immer", sagte die Angeklagte und nannte mehrere psychische Störungen, die im Laufe der vergangenen Jahre bei ihr diagnostiziert wurden.

Trotz der miserablen Voraussetzungen gelang es der damals jungen Frau jedoch, ein geregeltes Leben aufzunehmen. Sie machte in Kasachstan das Abitur. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie Zahnmedizin, worin sie in Kasachstan promovierte. Der Versuch, auch in Deutschland als Zahnärztin zu arbeiten, scheiterte vermutlich an der ersten Ehe, in der sie nicht glücklich wurde.

In der zweiten Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, ging es besser – heute arbeitet die Angeklagte als Krankenschwester. Es folgte ein weiterer Schicksalsschlag: im Jahr 2008 nahm sich der Sohn der Angeklagten das Leben. Im Alltag leidet die Abgeklagte unter Flashbacks – ein psychisches Phänomen, das durch Reize hervorgerufen wird und die Betroffene traumatische Erlebnisse wieder erleben lässt. Eine dauerhafte Anstellung zu finden, gestalte sich schwierig, da sie keine Teamplayerin sei und ihr Verhalten immer wieder Probleme auslöse, so die Angeklagte. Es gelang ihr, einen Kompromiss zu finden – sie arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma.

Der Ladendetektiv, der die Angeklagte bei der Tat ertappt hatte, beschrieb deren Reaktion an dem Tag: "Sie war traurig und hat auch geheult." Auch hätten die Angeklagte und ihr Mann versucht, sich mit der Geschäftsleitung außergerichtlich zu einigen. 500 Euro hätten sie gezahlt, damit man die Anzeige fallen lässt. Der Bericht der Bewährungshelferin verdeutlichte, dass die Angeklagte ein von außen betrachtet geordnetes Leben führe, durch den Suizid des Sohnes aber erneut schwer traumatisiert sei. Und eine Freiheitsstrafe sei nicht geeignet, um das Verhalten der Angeklagten zu ändern, sondern eine Therapie.

Ambulante Therapie dringend nötig

Ähnlich sah dies der Sachverständige, den das Gericht geladen hatte. "Sie kann negative Teile aus der Vergangenheit nicht in ihr Selbstbild integrieren", fasste er zusammen. Eine ambulante Therapie sei dringend notwendig, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Was die Schuldfähigkeit anbelangt, so bezeichnete der Sachverständige das Verhalten als "pathologisches Stehlen". Die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten sei nicht ganz aufgehoben, jedoch durch die psychischen Probleme beeinträchtigt. Seine Vermutung: Der Diebstahl helfe der Angeklagten als kurzfristiger Kick dabei, negative Gefühle zu verdrängen.

Die Tatsache, dass die Angeklagte mehrfach, unter anderem wegen Diebstahls, vorbestraft war, wirkte sich auf das Urteil aus – wie auch die Einschätzung der Experten, die aussagten. Die Frau wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 1100 Euro verurteilt, die an den Verein für gemeindenahe Psychiatrie im Zollernalbkreis gehen. Es wurde der Frau zur Auflage gemacht, innerhalb von einem Monat mit einer mindestens sechs Monate andauernden, ambulanten Psychotherapie zu beginnen.