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Lino Casanova war einer der ersten Gastarbeiter in der Region – und gilt heute als Original im Dorf

Dass in einem schwäbischen Dorf ein Nicht-Alteingesessener zu den "Originalen" gezählt wird, kommt selten vor. Und doch gibt es Ausnahmen. Wie Lino Casanova – ein Italiener, der vor mehr als 60 Jahren nach Oberschwandorf kam und nie mehr weg wollte.

Nagold/Haiterbach-Oberschwandorf. Es war der 8. Februar 1960, als er nach fast 700 Kilometer langer Busfahrt in Stuttgart ankam. "Den Tag werd’ ich nie vergessen", erinnert sich der heute 77-Jährige, während er mitten in seiner Garage voller Erinnerungen an frühere Zeiten sitzt: "Es war so kalt und ich hab’ schaffen müssen." Und Arbeiten, meint er selbstkritisch, sei sowieso nie eine seiner Stärken gewesen.

"Wir haben hier eh keine Zukunft"

Dabei war es nicht seine Idee, dem Heimatort San Daniele im Friaul den Rücken zu kehren, sondern die seines Vaters Hermino. Dessen Flaschnergeschäft lief mehr schlecht als recht. "Wir haben hier eh keine Zukunft", gab der Patron seiner Familie zu verstehen. Gemeinsam mit seinem 18-jährigen Sohn Lino wollte der Vater in Deutschland eine neue Existenz aufbauen. "Ich lass’ euch nicht allein", befand Mutter Vittorina kurzerhand, "ich geh auch mit." So stiegen die drei in den Bus, während die 15-jährige Tochter Mirella vorerst zurückblieb, und fuhren nach Stuttgart-Zuffenhausen in eine ungewisse Zukunft.

Kaum angekommen, verschwand im allgemeinen Tohowabohu, wer auf welche Firma verteilt werden sollte, Mutter Vittorina. Erst nach Tagen fand die Familie wieder zusammen. Vater Hermino und Sohn Lino fanden die Mama schließlich – "gemütlich beim Karten spielen mit anderen". Über diese Erinnerungen muss der 77-Jährige auch 63 Jahre später noch herzlich lachen, während er einen kräftigen Roten von seinem Schwager aus dem Friaul einschenkt.

Zwei Jahre arbeitete er bei einer Baufirma in der Landeshauptstadt, dann nutzte er die sich bietende Gelegenheit für einen Ausflug in den Schwarzwald mit einem Abstecher in die "Traube" in Nagold. Auch hier suchten Firmen händeringend nach Arbeitskräften. Gemeinsam mit sieben Männern und zwei Frauen kündigte Lino Casanova seinen Job in Stuttgart und fing bei der Nagolder Baufirma Brenner an. Eine Wohnung fand er in Oberschwandorf in der Kapfstraße. Wie das Schicksal es wollte, fuhr mit schöner Regelmäßigkeit eine junge hübsche Frau auf einem Bulldog an seinem Fenster vorbei. "Das ist eine Frau für dich", machte Papa Hermino seinem Filius Mut, denn: "Die kann schaffen". Und es dauerte nicht lange, bis Lino und Gerda, wie die junge Frau mit dem Traktor hieß, sich im "Hirsch" zum Tanz trafen.

"Mir hends pressant ghet", schwäbelt Lino mit seinem nach wie vor typischen italienischen Akzent und lächelt verschmitzt, während seine Frau Gerda, mit der er schon 51 Jahre verheiratet ist, sich noch gut an den feschen Kerl von damals erinnern kann.

"Ein Ausländer kommt nicht in Frage"

Für ihren Vater war diese Liaison untragbar: "Ein Ausländer kommt nicht in Frage", gab er Gerda zu verstehen. Und auch Lino versuchte das Gestichele der Einheimischen im Wirtshaus mit einem Scherz zu begegnen, der seine Absichten verbergen sollte: "Es isch nicht wegen dera, s’ischt wegen dem Bulldog." Aber Lino und Gerda fanden schließlich doch zusammen: "Grad z’load", sagt Gerda heute, "weil doch älle dagega waret."

Da lacht Lino: "Ich hätt’ auch kein Italiener gnomma." Ja, er mochte seinen Schwiegervater: "Ich glaub’, er hat mich auch mega. Er hot’s bloß it so zeiga könne."

Ein halbes Jahrhundert später gilt Lino Casanova als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Integration in eine Dorfgemeinschaft. Das Haus in der Rathausgasse umgebaut, drei Kinder, zwei Enkel, ein arbeitsames Leben auf dem Bau, im Presswerk und als Lastwagenfahrer – und nicht zuletzt Initator einer einzigartigen Festtradition.

Es war vor 40 Jahren, als er seinen 1600er Fiat aus der Garage stellte, die er damals von Hermann Gutekunst gemietet hatte, und Freunde und Bekannte darin zu einem Umtrunk einlud. Seither ist Linos Garagenfest in Oberschwandorf eine feststehende Einrichtung geworden. Im Mai fährt das Ehepaar nach San Daniele, kauft Schinken, Mortadella und Wein – "alles nur Italienisch" – und lädt im Sommer in die heimische Garage ein, auf deren Tor einladend "Osteria al Poc" steht.

Hier drinnen ist Linos kleines Museum. Hier hat er alles gesammelt, was nicht niet- und nagelfest war. Alte Familienbilder, Heiligenbilder, alte Schlüssel, Schwarzwaldschnitzereien, Urkunden, Modellautos und alte Fotos von längst vergangenen Zeiten in Oberschwandorf. "Ich han an haufa Zeug", sagt er stolz und führt auch noch in eine vollgestopfte kleine Hütte nebenan, "aber ich hab’ kein Platz." Und in dieser musealen Umgebung treffen sich jedes Jahr Verwandte und Bekannte, Freunde und natürlich die Familie mit den beiden Enkeln zum ungezwungenen italienischen Fest. "Und wenn’s Tor zu ischt", sagt Lino vieldeutig, "dann geht nix raus. Und ich freu mich, wenn die Leute da sind."

"Das hier ist meine Heimat"

In mancher Mußestunde setzt er sich selbst in seine Garage und betrachtet die Bilder und Plakate, die auch die Geschichte seines eigenen Lebens erzählen. Bis hin zu den Ehrenurkunden, die die Vereine im Dorf ihm für langjährige Mitgliedschaften verliehen haben.

"Ich hab das noch nie bereut", sagt der temperamentvolle Mann, der vor mehr als 60 Jahren ins Dorf kam, und blickt in dieser Garage um sich, als ob seine Gedanken zurückfliegen wollten auf den 8. Februar 1960: "Das hier ist meine Heimat. Ich fühle mich als Schwandorfer."