Bora-Fahrer Lennard Kämna ist der einzige deutsche Radprofi, der beim Giro ein gutes Ergebnis im Gesamtklassement anpeilen kann. Foto: imago//irotti

Die Ambitionen sind eher moderat, Aussicht auf Siege gibt es kaum. Fakt ist: Es stand schon mal besser um den deutschen Radsport. Im Krisenmodus geht es in den an diesem Wochenende an der Adria beginnenden Giro d’Italia.

Deutsche Radprofis sind zahlreich im Peloton. 35 haben eine World-Tour-Lizenz gelöst. Elf von ihnen werden auch ab diesem Samstag am Giro d’Italia teilnehmen. Die Ambitionen sind allerdings eher moderat. Siegfahrer gibt es wenige. Lennard Kämna ist die einzige Lichtgestalt. Der Etappenjäger will die Italienrundfahrt erstmals mit Blick auf die Gesamtwertung bestreiten. Pascal Ackermann und dem jungen Marius Mayrhofer sind noch Sprintsiege zuzutrauen. Ansonsten herrscht Flaute.

Ralph Denk schlug bereits Alarm. „Ich weiß nicht, ob es eine deutsche Mentalitätssache ist. Jeder hat seine eigene Geschichte. Aber Fakt ist, dass die Deutschen schon einmal besser waren“, sagte der Chef des einzigen deutschen World-Tour-Rennstalls Bora-hansgrohe angesichts der kargen Bilanz der deutschen Berufsradfahrer. Nur vier Saisonsiege, davon zwei in der World-Tour, stehen bislang zu Buche. Das ist ähnlich mager wie zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr. Da sprangen laut Statistik des Branchendienstes Procyclingstats.com insgesamt nur zwölf Siege heraus – ein historischer Tiefpunkt. In den 30 Jahren zwischen 1991 und 2021 stand der Schnitt bei 47 Siegen pro Saison, mit Ausreißern von mehr als 60 Siegen in den Glanzzeiten von Jan Ullrich oder auch dessen Nachfolgegeneration um Marcel Kittel, André Greipel, John Degenkolb und Tony Martin.

Die Situation ist alarmierend

Von all denen ist nur noch Degenkolb dabei. Der Oldie hätte sogar, wäre er nicht bei seinem Lieblingsrennen Paris–Roubaix nach Kollision mit dem späteren Sieger Mathieu van der Poel gestürzt, das deutsche Radsportfrühjahr retten können.

„Hätte, hätte, Fahrradkette“, heißt es so treffend. Der Konjunktiv mag besänftigen. Die Situation ist aber alarmierend. Die frühere deutsche Paradedisziplin, der Massensprint, kennt nur noch Gelegenheitssieger wie Phil Bauhaus und Max Walscheid, Pascal Ackermann und zuletzt Marius Mayrhofer. Siegesserien à la Kittel und Greipel – zusammen 25 Etappensiege bei der Tour de France – sind von ihnen nicht zu erwarten.

Im Klassiker- und Rundfahrerbereich sieht es noch düsterer aus. Zwar gibt es deutsche Profis wie Max Schachmann, Nils Politt und Emanuel Buchmann, die hier für Topleistungen infrage kommen – die drei sollen auch die Leitwölfe beim deutschen Rennstall Bora-hansgrohe sein. Das aber ging zumindest in den letzten Monaten schief. „Wir haben uns mehr Performance von ihnen erwartet“, gesteht auch Teamchef Denk. Ursache für das Ausbleiben der Ergebnisse sind vor allem gesundheitliche Probleme. War es beim früheren Tour-Vierten Buchmann eine Kombination aus Stürzen und Infekten und beim einstigen Roubaix-Vize Politt vor allem eine Coronainfektion mit entsprechenden Folgen, so kam bei Schachmann, dem gegenwärtig am vielseitigsten talentierten deutschen Profi, noch ein Erschöpfungssyndrom hinzu. All das führte zu Trainingsausfällen, und das zu mangelnder Leistung.

„Beim Radsport von heute braucht es eine relativ große Konstanz im Training, um dann auch vorn mitfahren zu können. Wenn du immer wieder Rückschläge hast durch Erkältungen und Infekte, dann ist das auch ein Problem im Trainingsaufbau. Denn in dem Moment, in dem das Immunsystem schwächelt, versucht man die Belastung gering zu halten“, erklärt Dan Lorang, Head of Performance beim Patientenrennstall Bora-hansgrohe, auf Nachfrage unserer Redaktion. Nur durch hohe und intensive Belastungen kommt aber die Form. Doch genau diese Art Training belastet wieder das lädierte Immunsystem. Ein Teufelskreis.

Potenzielle Talente gehen früh verloren

Das aktuelle deutsche Radsportdilemma hat aber auch strukturelle Ursachen. Dass die gesamte Saisonbilanz von gesundheitlichen Ausfällen dreier Fahrern derart in Mitleidenschaft gezogen wird, liegt auch daran, dass schon sehr früh potenzielle Talente verloren gehen. Denn es gibt nicht mehr genug Rennen für den Nachwuchs. „Wenn ich bei uns in der Region zu Radrennen gehe, dann haben wir in der U 17 oder U 15 ein Starterfeld von nicht einmal zehn Fahrern. Das ist sehr traurig“, klagt demzufolge Denk. Es mangelt auch an Profirennen, bei denen der Funke der Begeisterung überspringen könnte.

Nur fünf Rennen gibt der Profikalender in Deutschland her, vier Eintagesrennen sowie die Deutschland-Tour. 2007, damals war Stuttgart Ausrichterstadt der Rad-WM, gab es noch 21 Rennen, davon zehn Rundfahrten wie die Rothaus-Regio-Tour, die Niedersachsenrundfahrt, die Thüringenrundfahrt, die Bayernrundfahrt oder auch die Drei-Länder-Tour. Fehlendes Geld ist eine Ursache für ihr Verschwinden, behördliche Auflagen für Rennorganisatoren aber wohl die gewichtigere. Die hohen Regulierungshürden machen sich mittlerweile auch in mangelnder Performance beim Radsport bemerkbar. Kaum rosige Aussichten also für das Rennen um das rosa Trikot hinter den Alpen.

Der Giro d’Italia

Ablauf
An diesem Samstag (6. Mai 2023) fällt der Startschuss zum 106. Giro d’Italia. Die zweitwichtigste Radsport-Landesrundfahrt nach der Tour de France beginnt in diesem Jahr mit einem 19,6 Kilometer langen Einzelzeitfahren in den Abruzzen. Das Rennen endet nach drei Wochen und 3489,2 Kilometern am 28. Mai in Rom. Die Entscheidung fällt in der intensiven Schlusswoche. Favoriten auf den Gesamtsieg sind Remco Evenepoel (Belgien) und Primoz Roglic (Slowenien).

TV-Übertragung
Eurosport wird den Giro d’Italia auch in diesem Jahr im Free-TV übertragen. (sid)