Aliya, Julie (Zweite von links) und Dylan Davidson Meyers zeigen Oberbürgermeister Erik Pauly (Mitte) und dem Landtagsabgeordneten Niko Reith die Papier-Puppe für das Projekt Flat Stanley, die um die Welt fliegen soll. Foto: Fotos: Schedler

Geschichte: Juden mit Donaueschinger Wurzeln zu Gast / Familie Lindner musste 1939 in die USA fliehen

4000 Meilen und acht Stunden Flugzeit nahm die Familie Davidson Meyers aus New Hope in Pennsylvania auf sich, um sich die Heimat ihrer Vorfahren anzuschauen.

Donaueschingen (hsc). Etwa zwei Wochen werden Julie und Jon Davidson Meyers mit ihren Kindern Aliya und Dylan nun in der Donaustadt verbringen. Eingeladen hatte sie die Stadtverwaltung.

Bei einem Empfang im Strawinsky-Saal der Donauhallen nahm die Historie dieser Familie einen großen Rahmen ein. Dabei wurde deutlich, dass sie exemplarisch für die Geschichte der Juden in Donaueschingen steht. Die Vorfahren der Familie führten ein Konfektionsgeschäft in der Zeppelinstraße. Die jüdische Familie Lindner, so hießen die Vorfahren, lebte schon seit mehreren Generationen in Donaueschingen. Doch am 10. November 1938 nahm die Geschichte ihren tragischen Lauf.

Die damals 70-jährige Henriette Lindner, ihre Schwiegertochter Melitta und ihre vier Jahre alte Enkeltochter Doris waren an diesem Tag allein zu Hause, weiß Martina Wiemer aus dem Stadtarchiv. Eine Horde der Sturmabteilung (SA) sei gekommen und habe die Geschäftsräume sowie die Wohnung der Familie Lindner zerstört.

Im April 1939 flüchtete Max Lindner laut Aufzeichnungen mit seiner Frau Melitta und Tochter Doris über Frankreich nach New York, während Henriette Lindner zu ihrer Tochter nach Rastatt gezogen sei und von dort in ein sogenanntes Judenhaus nach Karlsruhe eingewiesen wurde. Von Karlsruhe aus wurde sie im Oktober 1940 mit 6500 weiteren badischen Juden in das Internierungslager im französischen Gurs deportiert. Vier Jahre später, 1944, sei Henriette Lindner in Frankreich gestorben. Ihrer Tochter Augusta und ihrem Ehemann Max Levi sei aber die Ausreise in die USA gelungen. Das Geschäft in der Donaueschinger Zeppelinstraße wurde durch einen Bombenangriff im Februar 1945 zerstört, so Wiemer.

Doris Lindner, die später Dory Davidson hieß, ist die Mutter von Julie Davidson Meyers. Sie habe ihrer Tochter Dylan für ein Schulprojekt von dem Schicksal ihrer Angehörigen erzählt. Bei dem Projekt sollte eine Papierfigur namens Flat Stanley um die Welt zu Freunden und Familien reisen, erzählt Dylan. Und weiter: "Dann nahm ich Kontakt mit Donaueschingen auf." Einige E-Mails, Videoanrufe und Telefonate später entstand die Freundschaft zwischen der Familie und Martina Wiemer vom Stadtarchiv, die sich mit dem jüdischen Leben in Donaueschingen beschäftigt. Kurzerhand wurden die Amerikaner eingeladen, um die alte Heimat zu entdecken.

"Unser Familienstammbaum ist zersplittert wie ein Glas. Wir lesen gerade die Scherben auf", sagt Julie Davidson Meyers. Denn auch ihr Mann Jon teile das Schicksal. 1939 sind seine Vorfahren aus Wuppertal in die USA geflohen. "Wir haben jetzt Freunde auf der ganzen Welt." Sie ist überwältigt von der Anteilnahme in Donaueschingen.

Vor der Reise hatte sie gemischte Gefühle: "Ich wusste nicht, was auf mich zukommen wird." Doch sie habe durchweg ein positives Gefühl durch die Bürger vermittelt bekommen. "Die heutige Generation hat keine Schuld an den Gräueltaten von damals. Aber die Erinnerungskultur ist tiefgreifend." Es brauche Stärke, um Fehler einzugestehen. Falsch sei es, ein Tuch des Vergessens über die Schrecken zu legen, sagt sie. "Die Stadt entschuldigt sich und ehrt die Menschen, welche sie im Dritten Reich verletzt hat." Obwohl die heutige Generation daran keine Schuld trage. Dies sei im aktuellen politischen Diskurs nicht selbstverständlich.

Auch Oberbürgermeister Erik Pauly zeigte sich in seiner Rede berührt. "Es tut der Stadt gut, die Nachfahren in Person vor Ort zu haben." Er wolle die Geschichte lebendig halten: "Wir müssen uns an die Gräueltaten erinnern", sagte der OB. Denn auch in Donaueschingen sei es zu Schrecken und Leid gegenüber der jüdischen Bevölkerung gekommen. "Deshalb ist es eine Ehre für uns, die Familie begrüßen zu dürfen."

Etwa 18 Familien lebten 1662 in der Stadt. Das Aufenthaltsrecht war durch einen Schutzbrief von Graf Ferdinand von Fürstenberg gewährt. Die jüdischen Einwohner waren keine eigene jüdische Gemeinde, sondern gehörten zur Synagogengemeinde in Gailingen. Verstorbene aus Donaueschingen wurden auch auf dem Friedhof in Gailingen beigesetzt. 1933 lebten noch drei jüdische Familien mit zusammen 18 Personen in Donaueschingen (die Familien Bensinger, Guggenheim und Lindner). Nach ihnen sind auch Straßen im neuen Donaueschinger Stadtviertel "Am Buchberg" benannt.