Gerhart Baum (FDP) diskutiert mit Aref Hajjaj, Vorsitzender des Palästina-Forums. Foto: IMAGO/Klaus W. Schmidt/IMAGO/Klaus W. Schmidt

Der ARD-Talk stellt die wichtige Frage, was nach der Zerstörung der Hamas eigentlich kommen soll. Besonders Gerhart Baum bleibt dabei in Erinnerung.

So zerrissen wie die Welt sind auch die Studiogäste beim Nahost-Talk von „Hart aber fair“ am Montagabend in der ARD. Mal erhält die palästinensische Sicht einen großen Applaus, dann wieder die israelische Perspektive. Dabei stellt Moderator Louis Klamroth, der auffällt durch eine effiziente und beherzte Gesprächsführung („Ich bestimme hier die Reihenfolge!“), die richtigen Fragen: Gibt es einen Weg, ein weiteres Sterben zu vermeiden? Und was passiert eigentlich nach der Zerstörung der Hamas in einem „Machtvakuum“ namens Gaza-Streifen?

Am ergreifendsten aber war vielleicht der emotionale von Applaus begleitete Redebeitrag des 91 Jahre alten FDP-Politikers Gerhart Baum (FDP), ein liberales Urgestein und ehemaliger Bundesinnenminister, über die globale Lage. Er reagierte auf einen ebenfalls Beifall erzeugenden Beitrag vom Vorsitzenden des Palästina-Forums in Deutschland, Aref Hajjaj, wonach eine Bodenoffensive im Gaza jetzt auch als „Krieg aus Rache“ aufgefasst werden könne und eine „kollektive Strafe für die Palästinenser“ beendet werden müsse.

Hass in der islamischen Welt

„Nein!“ antwortete Gerhart Baum, Israel unternehme nur den Versuch, sich selbst zu verteidigen. Baum zeigte sich tief erschüttert, über den Hass den Israel derzeit in der gesamten islamischen Welt auf sich zieht („bis nach Malaysia“), auch in Deutschland habe er noch nie eine solche Welle des Antisemitismus erlebt. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, meinte Baum. Man habe eine unsichere USA, einen Unruhestifter Putin, China mit Eigeninteressen, eine handlungsunfähige EU und einen Erdogan, der „die Türken aufwiegelt“. Gerhart Baum: „Ich war noch nie so besorgt wie heute.“ Man müsse jetzt diplomatische Aktivitäten entfalten, auch Richtung Iran, einem Schlüsselstaat im Nahostkonflikt: „Es muss Politik gemacht werden.“

Freie Geiseln ist das Wichtigste

Aber erst einmal hat das Militär das Sagen. Und da war es erstaunlich, wie nuanciert sich in der Talkrunde doch der ehemalige Israel-Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, zur Dringlichkeit einer großen Bodenoffensive – die ja mit „Inkursionen“ längst stattfindet – äußerte. Stein sagte, dass für ihn wichtiger als die Zerstörung der Hamas noch die Befreiung der mehr als 200 Geiseln sei. Die anfänglich hohe Zustimmung in Israel in Befragungen zur Offensive sinke inzwischen auf 50 Prozent. Das israelische Militär und die Politik hätten versagt, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, jetzt müssten sie „alles tun“, um die Geiseln sicher zu befreien. Auch, wenn es um den Austausch von 6000 inhaftierten Palästinensern gehe. Man könne mit der Bodenoffensive auch warten, es seien längst nicht alle Mittel ausgeschöpft, um die Geiseln zu befreien, so Stein. Indirekt für eine militärische Mäßigung trat auch der Politikwissenschaftler Peter Neumann ein: Man könne einen Krieg gegen die Hamas führen, aber wenn im Gaza keine humanitäre Hilfe stattfinde, dann werde das als „Krieg gegen die Palästinenser“ wahrgenommen.

„Mit dem Teufel verhandeln“

Dazu passend tauchte die Frage auf, ob sich die Hamas überhaupt „zerstören“ lassen, was im Studio eigentlich einhellig verneint wurde. Die Hamas habe Israel „eine Art Kriegserklärung gemacht“, das rechtfertige aber nicht, dass jetzt viele Zivilisten sterben, sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor, die syrische Eltern hat. Man müsse die Hamas so weit schwächen, dass ihr ein Wiederaufbau nicht gelinge. Einig in der Frage waren auch Shimon Stein und der Politologe Neumann: Von einer Vernichtung der Hamas könne doch gar keine Rede sein, deren Ideologie und Idee könne man nicht vernichten und aus der Welt jagen. „Man kann nur ihre militärische Kraft zerschlagen“, meinte Neumann. Die „Zerstörung“ habe auch bei den Taliban nicht funktioniert.

Für den Deutsch-Palästinenser Aref Hajjad war das ein Stichwort: Der Preis für eine Zerschlagung der Hamas sei sehr hoch, es sei doch jetzt entscheidend, dass die Geiseln frei kommen – ein Interview mit der Geiselangehörigen Roni Roman wurde eingespielt - und man müsse jetzt dafür sorgen, dass zumindest die Kinder und Älteren frei gelassen werden: „Wir müssen verhandeln, wir müssen notfalls mit dem Teufel verhandeln.“

Deutschland hat sich „weggeduckt“

Nur kurz hielt sich die Runde bei der umstrittenen Enthaltung Deutschlands zur Nahostresolution der UN auf. „Wir haben uns weggeduckt“, kritisierte Gerhart Baum. Man hätte als „Holocaust-Land“ Farbe bekennen und mit Nein stimmen müssen, so wie Österreich es getan hat. Shimon Stein meinte, dass Solidaritätsversprechen Deutschlands zu Israel – geprägt von Merkels Wort, Israels Sicherheit sei Deutschlands Staatsräson - sei doch „eingeschränkt“. Verteidigen musste den Kurs der Ampel-Regierung eher kleinlaut die Grünen-Politikerin Kaddor: Man habe eine europäische Lösung gesucht, man habe sich die Tür offen halten wollen für Gespräche nach Israels Militäreinsatz und „eine Perspektive für beide Seiten“.

Wer füllt das Vakuum?

Eine Perspektive aber wird auch der Gaza brauchen. Was passiert nach dem Ende des militärischen Einsatzes dort? Es sei schon im Falle von Libyen, Afghanistan und Irak der Fehler der USA gewesen, dass sie keinen Plan für „den Tag danach“ gehabt hätten, meinte der Politikwissenschaftler Neumann. Man löse eine schlechte Regierung ab, aber es käme „noch Schlechteres“ nach. Das erste Ziel sei, die Hamas militärisch und politisch zu zerschlagen, sagte Shimon Stein: „Aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, wer dann das Vakuum füllt nach einer Übergangsphase, Gedanken über den Tag danach.“

Netanjahu - „ein schlimmer Finger“

Eine Verwaltung durch andere arabische Staaten, was derzeit diskutiert wird? Die würden dafür sicher einen Preis von Israel verlangen, meinte Peter Neumann, etwa den Weg zu einer Zwei-Staatenlösung. Dass die eines nahen Tages kommen werde, da äußerten sich alle Studiogäste skeptisch, das sei unrealistisch, und Shimon Stein erntete Stirnrunzeln mit seiner Bemerkung, „wir müssen uns von den Palästinensern trennen und einseitig auf unser Territorium zurückziehen“, ansonsten sei der jüdisch-demokratische Staat gefährdet. Einhellig war die Auffassung in der Studiorunde, dass bei der jüngsten arabisch-israelischen Annäherung – sie liegt nun auf Eis – die Palästinenserfrage sträflich vernachlässigt und ausgeklammert worden ist, und der Deutsch-Palästinenser Aref Hajjaj wies daraufhin, dass in der Westbank 650.000 jüdische Siedler lebten und der Status quo erst mal verändert werden müsse. Bei allen Gegensätzen vom Pro-Palästinenser Hajjaj zum Israel-Freund Baum war übrigens eine Bemerkung des Ex-Bundesministers Baum auffällig: Man sei sich doch einig, „dass der Netanjahu ein schlimmer Finger ist“.

„Migrantische Wutbürger“ auf den Straßen?

Der Polit-Senior Baum war auch bei einem anderen Nebenaspekt der Sendung angenehm emotional. Da echauffierte er sich über eine interessante Bemerkung der Grünen Kaddor, wonach der antisemtische Aufruhr auf Deutschlands Straßen vielleicht auf gescheiterte Integration, Rassismus und mangelnde Teilhabe zurückzuführen sei, es sich also um „migrantische Wutbürger“ handeln könnte, die ein Ventil suchten und vom Nahostkonflikt eigentlich gar nichts oder wenig wüssten. „Das akzeptiere ich nicht!“ zürnte Gerhard Baum daraufhin, wobei Kaddor bemerkte, sie analysiere doch nur. Was die allgemeine Zukunft von Israel und den Palästinensern anbelangte, der Schlüsselfrage der Sendung, da hatte der Elder Statesman der Liberalen auch nur eine pauschale Vision zu verkünden. Baum: „Wir müssen eine Form finden, dass beide Seiten miteinander leben können.“