Zuhörer Heinrich Hamm trat in der Fragerunde ans Mikrofon und machte Waldrodungen mit Gechinger Geld für das Gewerbegebiet Lindenrain in Calw zum Thema. Foto: Kunert

Glücksfall für Gechingen und die Demokratie. 400 neugierige verfolgen Duell.

Gechingen - Gechingen hat die Wahl: Nach 24 Jahren im Amt des Bürgermeisters setzt Jens Häußler mit seiner erneuten Kandidatur auf Kontinuität. Herausforderin und Gemeinderätin Erika Kanzleiter-Schilling will neuen Schwung in die Verwaltung bringen – und kräftig investieren.

Es ist ein Glücksfall für Gechingen und die Demokratie. Zwei echte Kandidaten. Mit echten Ambitionen, mit Expertise, mit Visionen. Und mit komplett konträren Eingangsvoraussetzungen. Der Amtsinhaber – nüchterner, manchmal auch ein bisschen zu steifer Verwaltungsprofi, der wieder antritt. Vor dem Auftritt gab’s zuhause Käsebrot, erzählt er. Passend, möchte man sagen. Solide, bodenständig, ehrlich, verlässlich. Auf der anderen Seite die Herausforderin: Die hatte scharfes Curry vor dem Auftritt gegessen, gewürzt mit Chili und Knoblauch. So auch ihr Auftritt: feurig, spontan. Will investieren, Schulden machen. Den Ort nach vorne bringen – in großen, nicht kleinen Schritten. Was nicht nur Chancen bietet – auch Gefahren. Aber genau das abzuwägen, ist jetzt Sache der Gechinger. Am 14. Oktober ist Bürgermeisterwahl. Und die wird richtig spannend werden.

 Weil das extrem spannend werden kann, kamen am Freitagabend letztlich weit mehr als 400 neugierige Gechinger in die Gemeindehalle zur Kandidatenvorstellung. Wahlleiter Simon Klass, der mit Stoppuhr und in jeder Hinsicht aufrechter Haltung souverän durch die Veranstaltung führte, zeigte sich stolz auf seine Mitbürger. Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit. Und eine Bürgermeisterwahl schließlich jene Wahl, die die Menschen vor Ort in ihrem Alltag wohl am meisten beträfe.

Je 15 Minuten für Vortrag und Fragen der Bürger sahen die Formalien der Kandidatenvorstellung vor – dafür die Stoppuhr von Klass. Während der eine spricht, muss der andere abgeschirmt in der Chorstube der Gemeindehalle warten. Amtsinhaber Häußler darf als erster ans Pult – weil er als erster seine Bewerbungsunterlagen abgegeben hatte. Akkurat getimtes Redemanuskript, weitgehend nüchtern vorgetragen – der Persönlichkeit des knapp 56-Jährigen Diplom-Verwaltungswirts entsprechend. Er beginnt mit dem Erreichten der jüngsten und vorangegangenen Wahlperioden. Kontinuität – das seine Botschaft. Eine schuldenfreie Kommune. Aber auch ein programmatisches Sechs-Punkte-Zukunftsprogramm.

Nach zwei Minuten ist er beim Thema Hochwasserschutz. Es klingt ein bisschen nach Entschuldigung, dass auch fast zehn Jahre nach dem verheerenden Hochwasser nur geplant, nichts als bauliche Maßnahme umgesetzt ist. Verwaltungs-Klein-Klein als Erklärung, der schwarze Peter liege beim Landratsamt als Genehmigungsbehörde. Soll heißen: Auch jeder andere wäre in der Umsetzung der Hochwasserschutzmaßnahmen derart gescheitert. Trotzdem bleibt das eine offene Flanke – wird man später beim Auftritt der Herausforderin merken.

Visionen präsentiert

Häußlers Zukunftsvision: Entwicklung von Wohnen und Gewerbe in Gechingen. Das Baugebiet "Furt" ist gerade auf den Weg gebracht, ein weiteres im Anschluss Kirchberg II oder Furt soll unmittelbar folgen. Im Bereich Brunnenstraße und Bauhof könnte zusätzlich Innenentwicklung stattfinden. Und neben der Teilhabe am Interkommunalen Gewerbegebiet in Calw-Stammheim möchte Häußler auch eigene Gewerbeflächen auf eigener Gemarkung ausweisen. Wo – das bleibt offen. Ein Städteplaner sei beauftragt, hier Ideen zu entwickeln.

Eine Punktlandung

Etwas atemlos – vielleicht auch aufgeschreckt von der plötzlichen Gegenkandidatin – geht es weiter: Kinder- und Jugendbetreuung, neue Wohnformen für Senioren, Förderung des Ehrenamts, mehr Bürgerbeteiligung, der Kampf um Zuschüsse für den endlich umzusetzenden Hochwasserschutz und die allgemeine Infrastrukturentwicklung (Breitband sowie Ausbau Kreisstraße Gechingen/Siebentannen). Letztlich eine Punktlandung mit der Redezeit. Der penible Verwaltungsprofi eben.

Aber jetzt die Fragen: Wann gibt’s (endlich) Angebote für Elektromobilität in Gechingen? Häußler: Vertrag sei letzte Woche mit der ENCW unterschrieben worden, die Ladestation wird kurzfristig am P-Platz Brunnenstraße eingerichtet. Wie geht es mit dem gewerblich ausblutenden Ortskern weiter? Wenn der Hochwasserschutz umgesetzt wird (Bau offener Regenwasserkanal), werde alte Gebäudesubstanz abgerissen – und Platz für Planung einer neuen Innenentwicklung geschaffen. Drei Grundstücke seien dafür bereits erworben worden, ein weiterer Kauf sei unterschriftsreif. Weitere Grundeigentümer seien aber (noch) nicht zum Verkauf bereit. Auch wie man junge Leute im Ort halten könne (Neubaugebiete; Kinderbetreuung) oder Defizite im Verkehr beseitigen wolle (Sache der Verkehrsbehörde, also des Landkreises) interessiert die Bürger.

Dann: Auftritt Erika Kanzleiter-Schilling. Die räumt erst mal den Grünschmuck links und rechts des Rednerpults zur Seite – damit man sie besser sieht, und sie das Publikum besser sehen kann. Sie kann noch keine Erfolge aus vorangegangene Amtszeiten vorweisen. Komplimente an die Mitbürger, deren Engagement im Ehrenamt sollen das wettmachen. Kanzleiter-Schilling ist gebürtige Gechingerin, der Ort ihr Herzblut. So nüchtern, sachlich der Amtsinhaber daherkommt – seine Herausforderin setzt Emotionen und Enthusiasmus dagegen. Auftritt einer Powerfrau. Die "Lufthoheit" im Saal gewinnt die Rednerin sofort. Ihr Applaus ist lauter. Herrscht da Wende-Atmosphäre in Saal und Ort? Die spontane Frage beantwortet eine Sitznachbarin sibyllinisch: "Das könnte man so sehen..."

Auch die Herausforderin braucht nur wenig mehr als eine Minute bis zum Thema Hochwasserschutz. Zuvor ein paar Spitzen gegen die Amtsführung des Amtsinhabers – ohne diesen direkt zu benennen: Sie sehe eine Rathaus-Verwaltung als Dienstleister, müsse (zu den Öffnungszeiten) immer ansprechbar sein. Anfragen der Bürger seien zügig und erschöpfend zu bearbeiten – wobei mitschwingt, dass das eben bisher in Gechingen so nicht immer sei. Aber der Hochwasserschutz: Es müsse schnell eine Bürgerinformationsveranstaltung dazu geben, die alle Fragen der Bürger beantwortet. Und dann müssten zügig die Baumaßnahmen zum Schutz der drei kritischen Flutungsgebiete "parallel, nicht nacheinander" umgesetzt werden. Punkt.

Eher Makel als Zier

Auch sieht die Herausforderin die Schuldenfreiheit der Gemeinde nicht als Zier, sondern als Makel: Preis dafür sei ein Investitionsstau etwa bei der Schule, deren Dach mittlerweile so marode sei, dass nur noch ein kompletter Gebäudeneubau helfe. Da Zinsen niedrig seien wie nie, sei jetzt die Zeit für Investitionen. Zukunftsprojekte. Wie? Kanzleiter-Schilling, die gelernte Sozialarbeiterin, hat und will nicht auf jede Frage eine Antwort haben. Sie will die Bürger zum Mitmachen bewegen. Quasi die Schwarm-Intelligenz der Bürger erschließen – zum Wohl der Gemeinde. Aber immer unter dem Credo der Grünen-Politikerin: Energieeffizienz. Warum nicht ein Blockheizkraftwerk mit Nahwärmenetz für Gechingens öffentliche Bauten? Mehr moderne, nachhaltige Urbanität?

Auch bei ihr die Bürgerfragen: Wie bezahlbaren Wohnraum schaffen? "Ich kann mir vorstellen, dass die Gemeinde als Bauträger auftritt." Kleine, bezahlbare Wohneinheiten für Singles, einkommensschwache Haushalte – finanziert (auch) durch parallel geschaffene teure Luxus-Eigentumswohnungen. Die Balance macht’s. Sonderapplaus. Vereinsförderung? Die ist gut, soll so bleiben. Aber tolle Ideen der Vereine auch außer der Reihe gefördert werden – wie aktuell der Pumptrack. "Das schafft Lebensqualität!"

Wald vernichten mit Gechinger Geld für das Gewerbegebiet Lindenrain in Calw? Auch Amtsinhaber Häußler wurde zuvor diese Frage gestellt. Beide Bewerber verteidigen den jüngsten Gemeinderatsentschluss dazu. Es brauche die Entwicklung. Und den schwierigen Kompromiss, den diese Fläche darstelle, da es keine echten Alternativen gebe. Es bleibt der einzige Punkt, in dem sich die beiden Bewerber an diesem Abend wirklich einig sind.