Biografie: Kriegswaise Hans-Joachim Digeser hat sich für die Schwächsten eingesetzt / Skulpturen sollen an die Geschichte erinnern

Die Nonne hängt an einem stabilen Gurt und wird vom Steinmetz auf den Anhänger geladen. Hans-Joachim Digeser aus Friesenheim schaut zu und ist glücklich, dass sein Werk vollbracht ist. Ein Jahr lang arbeitete er an einer weiteren Figur, einem kleinen Jungen. Nun hat er dem Kloster Schramberg mit Unterstützung von Steinmetzmeister Frank Rothbächer beide Skulpturen gestiftet.

Wie viele Monate an der 1,65 Meter lebensgroßen Nonnenfigur gearbeitet wurde, wagt niemand mehr zu beziffern. Zwischen Anfang und Fertigstellung lagen schwere Krankheitsmonate des 71-Jährigen sowie die Vollendung durch Peter Nitsche und Frank Rothbächer. Nun wurde dem Kloster Heiligenbronn in Schramberg das Werk übergeben. Dort werden die beiden Figuren im Garten fest verankert und sollen einen Hauch der neueren Geschichte des Klosters, das nachweislich erstmals im Jahr 1385 erwähnt wurde, erzählen.

Geschichte eng mit Kriegsjahren verbunden

Diese neuere Geschichte des Klosters in den Kriegsjahren um 1944/45 ist direkt mit derer der Kriegswaisenkindern verbunden. Als kleiner Junge kam Digeser, Sohn einer Deutschen und eines Franzosen, selbst ins Waisenheim. Sein Vater war ein französischer Kriegsgefangener und verstarb, seine Mutter sollte er erst im Alter von 15 Jahren wiedersehen. Zwiespältig sind die Erinnerungen und groß der Dank gegenüber den Nonnen, die ihm ein Heim gegeben haben. Ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit, Kleidung – das war mehr, als vielen anderen Kriegswaisen überhaupt zugestanden wurde. Und mehr als mancherorts die Bevölkerung auf dem Land besaß. "Juden, Zigeuner und Kriegswaisen waren von der Gesellschaft abgestempelt", sagt Digeser. Im Waisenhaus habe er eine besondere Form der Gemeinschaft erfahren.

Dass in Einrichtungen, die Kinder betreuen, jegliche Form von Gewalt, weder mit Peitschen noch Schlüsseln als Symbol für Bestrafung und Wegsperren verloren habe, machte der Steinmetzgeselle am Sockel der Nonnenstatue deutlich – dort sind beide Symbole eingearbeitet. Hans-Joachim Digeser ging seinen Weg, erlernte den Beruf des Erziehers, war in der Sozialarbeit tätig. Er engagierte sich zeitlebens für Kinder und Jugendliche am Rand der Gesellschaft. Bei der Caritas war er bis zur Rente beschäftigt. Wer seinen Weg aus dem Abseits zurück in die Gesellschaft schaffen will, der braucht Arbeit – aus dieser Erkenntnis heraus hat er 1983 die Struktur der "Neue Arbeit Lahr" im Namen der Caritas entwickelt. Dass sich diese Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bis heute bewährt habe, erfülle ihn mit Freude, aber auch einer gewissen Genugtuung, weil er auch unbequeme Wege gehen musste.

Doch Digeser ist noch einen Schritt weitergegangen. Arbeit sollte nicht weiter ausschließlich dem Erwerbszweck dienen, sondern eine Form der Gemeinnützigkeit erfahren. Für diesen Anspruch ist er, wiederum mit der Caritas im Rücken, bis vor das Bundesarbeitsgericht gegangen. "Im Jahr 1984 wurde der Prozess eröffnet und 1986 das Urteil gesprochen und Arbeit somit auch die Gemeinnützigkeit zugesprochen", blickt er zurück.

Einsatz für jene, die durchs Raster fielen

Im Sinne der Gesellschaft ist Digeser viele unbequeme Wege gegangen. Geruhsam oder bequem ist seine Biografie nicht verlaufen. Ein Leben lang war sie verknüpft mit Menschen, die längst durch das Raster gefallen sind. Aufmerksam machen und nicht in Vergessenheit geraten dürfen Zeitfenster, die mit Lebensschicksalen eng verbunden sind. So wie die Kindheit, die Digeser als Kriegswaise hinter den Klostermauern von Heiligenbronn erlebt hat. Vielleicht nicht die schönste Kindheit, aber eine Kindheit, in der er mit einer Form des Mangels gelernt habe zu leben und zu überleben.

Jetzt stehen die von ihm bearbeiteten und von Rothbächer vollendeten Skulpturen am Kloster. Der Knabe und die Nonne scheinen in einen Dialog zu treten. Dem Knaben reichen dafür zwei übergroße, erwartungsvolle Augen, der Schwester die Demutshaltung.                                              

 cbs