Ein atemberaubendes Naturerlebnis bietet sich bei der Dokumentation, die über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren aus mehr als 500 Stunden Filmmaterial entstanden ist. Foto: leavinghomefunktion

Der Film "972 Breakdowns", der die atemberaubende Motorrad-Reise einer Gruppe junger Künstler dokumentiert, war im Sommer und Herbst diesen Jahres in vielen Kulturkinos der Republik zu sehen, darunter vielen Open-Air-Veranstaltungen. Für zahlreiche Preise nominiert sorgte die Independent-Produktion für Aufsehen in der deutschen Dokumentarfilm-Szene. Wir sprachen mit Kamerafrau Elisabeth Oertel , die bei dem zweieinhalb-jährigen Trip hautnah mit dabei war.

Oberndorf - Auf klapprigen russischen Motorrad-Gespannen fahren fünf abenteuerlustige Künstler von Halle (Saale) durch drei Kontinente: durch Kasachstan, die Mongolei, den Fernen Osten Russlands, über Alaska und Kanada bis nach New York City. Es sind unzählige mechanische, körperliche und bürokratische Breakdowns zu überstehen. Dabei sind es die Treffen mit Menschen rund um den Globus, mit deren Hilfe das Vorankommen bis in die entlegensten Zipfel der Welt überhaupt erst möglich ist. Wir führten ein Gespräch mit der Kamerafrau des fünfköpfigen Abenteurerteams.

Ihr kennt Euch aus dem gemeinsamen Kunststudium – entsprang dieses Projekt also mehr einem künstlerischen als einem abenteuerlich-sportlichen Ansatz?

Eingangs kann ich sofort klarstellen: Die Motorräder, auf denen wir unterwegs waren, sind alles andere sportlich, sondern völlig aus der Zeit gefallen! (lacht) Tatsächlich haben drei von uns zusammen auf der Burg Giebichenstein in Halle studiert, deren dicke Burgmauern unseren Geist und unsere Neugier auf die Welt fast erdrückt hatten. Wir mussten dem dort herrschenden Mikrokosmos einfach irgendwann entfliehen. Es herrschte mächtig Aufbruchstimmung, als wie unsere Abschlüsse in der Tasche hatten. Die Planung, Finanzierung, das alles durchzustehen, hatte für uns als Künstler auch den Reiz einer Grenzerfahrung.

Wieso fiel eure Wahl auf die historischen russischen Motorräder von Ural?

Diese Motorräder boten uns einen möglichst natürlichen Zugang zu den Menschen auf unserer Route. Um die Ural-Maschinen gibt es eine Szene, die sich komplett durch die Länder der ehemaligen Sowjetunion zieht und auch in Amerika eine Anhängerschaft hat. Es gibt Sammler und Schrauber, die jede Schraube an diesen Geräten kennen. Und das ganz im Gegensatz zu uns: Wir hatten zunächst nicht mal einen Motorrad-Führerschein, aber eine Menge Ersatzteile mit in den Beiwagen. (lacht)

Wie gestaltete sich die von Euch provozierte Interaktion mit den Menschen dort?

"Woher kommt ihr? Wohin wollt ihr? Und warum fahrt ihr diese bescheuerten alten Motorräder?", diese drei Fragen hörten wir ständig. (lacht) Es hatte sich vor jedem unserer Stopps bereits herumgesprochen, dass wir kommen würden und alle erwarteten ein paar knallharte deutsche Rocker. Als dann ein Tross Künstler, darunter zwei aus Zypern und Estland, sowie zwei Frauen ankam, waren erstmal alle baff. Als sie dann aber hörten, dass wir felsenfest entschlossen waren, bis nach New York zu fahren, war jeder Feuer und Flamme. Wirklich jeder wollte uns auch dort ankommen sehen.

Was habt ihr über das Reisen gelernt auf dieser, gelinde gesagt, entschleunigenden, teilweise eher lebensgefährlichen Tour?

Prinzipiell kann man die Motorrad-Reise mit heutigen Mitteln auch in drei Monaten machen, wir allerdings brauchten zweineinhalb Jahre. Bewusst auf diese Weise zu reisen, ließ uns ein viel besseres Gespür für die Distanz, die Länder und die Menschen bekommen. Wir wurden bei unseren Begegnungen mit den Menschen unmittelbar mit anderen Wahrnehmungen des Lebens konfrontiert. Und wir begannen uns die Frage zu stellen, wie sich die Realität für die meisten Menschen auf der Welt gestaltet. Dabei stellten wir bei den Menschen nach und nach mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede fest – quasi einen Kern an Bedürfnissen, Sehnsüchten und Gefühlen, der uns alle eint.

Euer Film wird als Anti-Western gehandelt, ihr fahrt nicht nach Westen, sondern nach Osten, um nach New York zu gelangen. Auch lässt sich eine gewisse Anti-Konsum- und eine Do-It-Yourself-Ästhetik ablesen. War das eine beabsichtigte künstlerische Aussage?

Wir hatten uns im Vorfeld nie gesagt, dass wir alles grundlegend anders machen. Wenn Du von einer Anti-Haltung sprichst, dann greift das eher in der Art, wie wir geplant haben. Denn den Zeitplan überließen wir komplett diesen bekanntermaßen störanfälligen Motorrädern. Die Maschinen bestimmten komplett, wie weit wir an welchem Tag kamen. Wir legten unser Schicksal also völlig in die Hände des Zufalls: Russisches Roulette sozusagen. (lacht)

Gab es einen Punkt an dem Du wirklich dachtest, es geht nicht mehr weiter?

Es gab den Punkt an dem wir unserer Helfernetzwerk komplett ausgeschöpft hatten, unsere Visa in Russland standen kurz vor dem Ablauf und es war völlig aussichtslos, dass die gebrochene Kupplung an unserem Anhängergespann rechtzeitig hätte repariert werden können. Jeder, der uns da noch geholfen hätte, selbst wenn es ein Militär gewesen wäre, hätte dann ernsthaft Probleme bekommen können. Da wir das nicht verantworten wollten, mussten wir, wie so oft auf der Reise, kapitulieren und uns neu sortieren. An diesem Punkt brach ich in Tränen aus und rief meinen Vater in Deutschland an. Er sagte mir nur: "Elisabeth, weiß Du wie weit ihr gekommen seid? Weiß Du wie wenige Menschen es überhaupt zu so was Tollem gebracht haben wie ihr gerade? Willst Du nicht einfach nur zufrieden sein?"

Wie beurteilst Du diesen Moment heute?

Jetzt würde ich natürlich sagen: Es ist machbar, doch wir hätten noch ein Jahr länger gebraucht. So eine Reise kann man sich von hier kaum vorstellen, geschweige denn planen. In Tschukotra, also dem östlichsten Zipfel Russlands gibt es kein funktionierendes Straßennetz für 4000 bis 5000 Kilometer. Als wir daraufhin auf selbstkonzipierten, mit unseren Motorrädern angetriebenen Booten einen 1600 Kilometer langen Fluss herunterfuhren, kamen wir gerade einmal an drei Dörfern vorbei – es gab keine Chance umzudrehen. Das sind völlig andere Maßstäbe. Ihr tretet bei den Open-Air-Vorführungen auch in Persona auf.

Gebt ihr auch Management-Seminare?

Ja, beides ist der Fall. Und es ist kaum zu glauben, wie viele Leute im Management sich einfach nichts trauen, weil sie Angst haben, einen Fehler zu machen. Dabei drehte sich bei uns hingegen alles um die Fragen: Wie weit kommen wir als Nicht-Ingenieure, als Nicht-Ärzte, als Nicht-Profis? Es ist unsere Erkenntnis, dass einen eine gesunde Naivität gepaart mit Verantwortungsgefühl, Empathie und Kommunikationsstärke weit bringen kann. Aber so hochtrabend muss es gar nicht sein – wir freuen uns schon, wenn jemand uns eine nette Mail darüber schreibt, dass er das eine oder andere verstaubte Bastel-Projekt auf dem Dachboden angegangen hat oder eine Reise gemacht hat, von der er schon immer träumte.

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