Tahar Rahim als Nazaret (li.), Bartu Küçükçağlayan als Mehmet Foto: Pandora

Lange vor dem Kinostart beschimpften türkische Nationalisten den Hamburger Regisseur Fatih Akin, weil sein neuer Film „The Cut“ vom Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs handelt. Er erzählt das Drama eines Vaters, der überlebt und seine Töchter sucht.

Stuttgart - Das sensible Thema hat die Erwartungen hochgeschraubt, Fatih Akin hat sie selbst zusätzlich geschürt. Ein Herzensprojekt nannte er seinen Film „The Cut“, an dem er sieben Jahre gearbeitet hat mit einer internationalen Besetzung und Drehorten wie Jordanien, Kuba, Kanada. Mit dem US-Amerikaner Mardik Martin holte er sich den Autor früher Scorsese-Filme („Hexenkessel“, „Wie ein wilder Stier“) ins Boot, ließ ihn das Drehbuch umschreiben und straffen. Was herauskam, ist ein Wechselbad.

Erzählt wird die Geschichte des armenischen Schmieds Nazaret Manoogian (Tahar Rahim, bekannt aus „Ein Prophet“), beginnend im Frühjahr 1915. Eine Spur zu idyllisch gezeichnet wirken Nazarets Heimatstadt sowie sein Familienleben mit Ehefrau und Zwillingstöchtern. Umso heftiger ist der Schock, als nächtens türkische Gendarmen alle armenischen Männer abholen.

Unterbelichtet bleiben die Hintergründe. Dass es Spannungen zwischen den christlichen Armeniern und den Türken gab, hat der Film zuvor zwar vage angedeutet, über deren Ursachen erfahren die Zuschauer aber nichts – und ebenso wenig über den Anlass für die türkische Regierung, eine gesamte Minderheit zum Feind zu erklären (siehe Kasten). Auch wenn Akin betont, „The Cut“ sei „kein Film über den Völkermord“, sondern eine „Geschichte über Auswanderung und Einwanderung“, die „vor dem Hintergrund des Völkermordes“ spiele: Wenn die Motive der Täter nicht erklärt werden, bleiben diese beliebig und austauschbar.

Trotzdem fesselt die Handlung, untermalt mit stimmungsvollen Gitarrenklängen von Einstürzende-Neubauten-Musiker Axel Hacke. Die armenischen Zwangsarbeiter müssen Straßen bauen, und als es für sie nichts mehr zu tun gibt, wird ihnen die Kehle durchgeschnitten. Weil der ehemalige Dieb Mehmet Skrupel hat und ihn nur am Hals verletzt, überlebt Nazaret, doch durch den titelgebenden Schnitt (englisch: „cut“) verliert er seine Stimme.

Er zieht durch die Wüste, gelangt zum Konzentrationslager Ras al-Ayn, wo er zwischen halb verwesten Toten, Kranken und Verhungernden seine Schwägerin trifft, die ihm erzählt, alle Verwandten seien tot. Ras al-Ayn ist die Kulmination des Schreckens in „The Cut“, ein wahres Inferno, dessen apokalyptische Bilder sich einbrennen.

Der verzweifelte Nazaret wird erneut gerettet, vom Seifenfabrikanten Omar Nasreddin aus Aleppo, der ihn in der Seifensiederei versteckt. Nach Kriegsende strömen armenische Flüchtlinge nach Aleppo, darunter Nazarets ehemaliger Gehilfe, der ihm erzählt, seine beiden Töchter seien am Leben.

Und so macht sich der stumme Vater auf die jahrelange Suche: in den Libanon, nach Kuba, in die USA von Florida bis NordDakota. Immer kommt er zu spät, sind die Töchter schon wieder weg. Und immer wieder trifft er auf geflüchtete Armenier. Die Stationen seiner Odyssee sind auch die der armenischen Diaspora nach dem Völkermord – ein Aspekt, der Akin wichtig war.

Nach dem existenziellen Überlebenskampf im ersten Teil flachen Spannungskurve und Komplexität der Handlung bei der Suche stark ab. Trotz aufwendigen Produktionsdesigns wirkt die nicht enden wollende Hatz nurmehr wie ein pflichtschuldiges Abhaken, wie immer neue Levels eines Computerspiels. Am leicht angekitschten Ende steht weniger Erleichterung als eine gewisse Ratlosigkeit.

Hat sich der Regisseur und Autor mit dem Stoff übernommen? Akin ist ein Meister in der Kunst, Szenen von ungeheurer emotionaler Wucht zu inszenieren: Szenen, die den Zuschauer umhauen können. Solche gibt es auch in „The Cut“. Eine weitere Stärke, mit der er in seinen bisherigen Filmen auch gelegentliche Anflüge von Pathos brach: Charaktere und Dialoge wirken sehr glaubhaft und lebensnah, weil sie sich aus einer präzisen Beobachtung der Umgebung speisen. Bei der weit in der Vergangenheit liegenden Handlung von „The Cut“ kann Akin aus dieser Gabe nicht schöpfen, und möglicherweise wirken deshalb die Dialoge oft extrem hölzern, die Charaktere eindimensional.

Hauptdarsteller Tahar Rahim bleibt hier eine Ausnahme: Auch als stummer Held vermag er durch seine Augen und seine Mimik mit subtilsten Mitteln eine breite Gefühlspalette auszudrücken. Grandios etwa, wie er in einem Kino in Aleppo Charlie Chaplins „The Kid“ sieht und die Handlung vor dem Hintergrund seines eigenen Schicksals geradezu körperlich miterlebt – eine bewegende Hommage an die Kraft des Kinos und eine der Szenen, die trotz der Schwächen von „The Cut“ lange nachwirken.