Gustl Mollath ist am vergangenen Dienstag nach sieben Jahren aus der Psychiatrie entlassen worden. Foto: dpa

Fällt es auch Richtern und Juristen wie allen Menschen schwer, eigene Fehler oder Fehler des eigenen Berufsstands einzuräumen? Und welche Folgen hat dies für den Rechtsstaat?

Berlin - Der Fall Mollath schlägt auch nach der Freilassung des 56-Jährigen hohe Wellen: Der Verfassungsrechtler Christian Kirchberg glaubt an eine hohe Dunkelziffer solcher Fälle.

Herr Kirchberg, muss der Fall Mollath unser Vertrauen in den Rechtsstaat beeinträchtigen – oder beruhigt er im Gegenteil, weil die Justiz Kraft zur Fehlerkorrektur gezeigt hat?
Der Rechtsstaat funktioniert, wenn Fehlurteile korrigiert werden. Die Umstände dieses Verfahrens machen dennoch unruhig, weil eben nicht jeder Fall eine solche Öffentlichkeit erfährt wie der Fall Mollath. Man fragt sich schon, wie die Gerichte denn in diesen anderen Fällen entschieden haben.
Verfassungsrechtler Christian Kirchberg. Foto: StN
Sie rechnen mit einer beträchtlichen Dunkelziffer an Fehlurteilen?
Ich bin ziemlich sicher, dass es eine Vielzahl von Fehlurteilen gibt. Das gehört, wenn man so sagen darf, zum allgemeinen Lebensrisiko, dem man natürlich ungern ausgesetzt ist, zumal in Strafverfahren. Aber der Rechtsstaat versucht dem entgegenzuwirken – etwa durch die Einräumung von Rechtsmitteln bis hin zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes. Und auch rechtskräftige Urteile können in Wiederaufnahmeverfahren noch einmal untersucht werden.
Genau da setzt aber Kritik an: Manche sagen, es gebe zu hohe Hürden für eine Wiederaufnahme. Ist das eine Lehre aus dem Fall Mollath?
Ich glaube nicht, dass speziell im Strafprozess die Hürden für die Wiederaufnahme des Verfahrens zu hoch sind. Rechtssicherheit ist ebenfalls ein hohes Gut im Rechtsstaat. Und auch im Interesse des Rechtsfriedens dürfen rechtskräftige Urteile nicht so leicht aus der Welt geschafft werden. Dazu dürfen mehr oder weniger beliebige Argumente, die bereits im Ausgangsverfahren hätten vorgebracht werden können, eben nicht ausreichen. Die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme müssen deshalb streng gefasst sein und entsprechend praktiziert werden. Im Fall Mollath aber sind haarsträubende Irrtümer passiert. Die haben ja dann auch zur Wiederaufnahme geführt.
Mollath ist aufgrund eines Gutachtens in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung zwangseingewiesen worden. Passieren solche Einweisungen in Deutschland zu schnell?
Ja, auch angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes spricht einiges dafür, dass die zwangsweise Einweisung in geschlossene Anstalten in der bisherigen Praxis zu schnell erfolgte. Da wurde bei Überprüfung solcher Einweisungen wohl nicht immer mit dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen. Das hat kürzlich auch der Generalbundesanwalt in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Dafür spricht auch, dass sich die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger genötigt sieht, auf den Fall Mollath mit einer Novellierung der einschlägigen Gesetzgebung zu reagieren.
Zur Einweisung Mollaths führten die Aussagen im Gutachten. Spielen Gutachter vielleicht eine zu große Rolle?
Gerade bei Strafverfahren gibt es diverse Fehlerquellen: die Komplexität des Tatgeschehens, womöglich schlecht oder regelwidrig durchgeführte Ermittlungen, die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen – aber eben auch Voreingenommenheiten von Gutachtern oder die mangelhafte Durchführung von Begutachtungen durch Sachverständige. Einzeln oder in der Summe können diese Fehlerquellen zu Fehlurteilen führen.
Gibt es in der deutschen Justiz eine mangelnde Kultur der Offenheit im Umgang mit Fehlern und Irrtümern?
Wie allen Menschen fällt es auch Richtern und Juristen schwer, eigene Fehler oder Fehler des eigenen Berufsstands einzuräumen. Insofern bestehen im gewissen Umfang immer Reserven gegenüber Wiederaufnahme-Anträgen. Richter sind es gewohnt, das letzte Wort zu haben und streitige Auseinandersetzungen endgültig zu entscheiden. Das führt gelegentlich zu einem nicht professionellen Umgang mit Anträgen auf Wiederaufnahme von Verfahren.
Zeigt der Fall Mollath, dass nur wer laut ist, eine Chance hat, die Wiederaufnahme durchzusetzen?
Die Herstellung von Öffentlichkeit kann sicher zum Erfolg eines Bemühens um Wiederaufnahme eines Verfahrens beitragen. Mediale Aufmerksamkeit kann sich aber auch genau gegenteilig auswirken. Im konkreten Fall sind jedoch im Laufe der öffentlichen Debatte so viele Unzulänglichkeiten bei der Verurteilung von Herrn Mollath ans Tageslicht gekommen, dass dieses Verfahren nicht anders ausgehen durfte als mit einer Wiederaufnahme. 9