Absage ans Alleinsein: Neun Menschen wohnen gemeinsam in der ehemaligen Sprudelfabrik in Eyach / Sie pflegen Philosophie des Teilens

Von Lena Müssigmann

Eyach. 12 000 Quadratmeter Platz für Möglichkeiten, für Ideen und Experimente. 12 000 Quadratmeter Platz zum Leben. Auf dieser Fläche rund um die ehemalige Sprudelfabrik in Eyach entfaltet sich seit einem Jahr eine Mehrgenerationen-WG.

Die graue Wand im Hof ist voll farbiger Kleckse. "Versaut", würde der durchschnittliche schwäbische Hausbesitzer sagen. "Ein bisschen schöner", sagt Mechthild Behren aus der Mehrgenerationen-WG. Die Bewohner haben die Farbbeutel an die Wand geworfen. "Die graue Farbe gefällt uns nicht", sagt Behren. Jedenfalls soll es hier künftig schöner aussehen, lebendiger.

Dabei ist es schon ziemlich schön: Weiter vorne am Zufahrtsweg grasen Pferde. Im Garten der ehemaligen Sprudelfabrik halten die Hausbewohner ein paar Hühner. Am Zaun hängt ein Buddha. Hunde springen durch den Garten. Über allem, auf dem riesigen Balkon, sitzen alle Bewohner, die gerade da sind, zusammen. Es gibt Zitronenwasser und eine Großfamilienpackung Kekse.

Seit einem Jahr entsteht in der ehemaligen Sprudelfabrik ein Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft. Die Idee dazu hatten Andreas Laurenze und seine Partnerin Mechthild Behren, zusammen mit ihrer Bekannten Ute Rohlf und deren Partnerin Jutta – "wir vier Oldies", sagt Andreas Laurenze.

Sie haben lange nach einem geeigneten Ort für ihre WG gesucht und sind vor gut einem Jahr mit der Sprudelfabrik fündig geworden. Laurenze hat das Gebäude, Baujahr 1900, für 650 000 Euro gekauft. Er hat seither 150 000 Euro in die Renovierung investiert. Seit Februar vor einem Jahr wohnen die vier Oldies im Eyachtal und suchen passende Mitbewohner. Möglichst jung sollen sie sein, mit Kindern, damit der Mehrgenerationen-Gedanke belebt wird.

Can Yapici (33) und seine Tochter Lovis (3) sind schon eingezogen. Und ein junges Paar, das nun vor wenigen Wochen ein Baby bekommen – Mitbewohner Nummer neun.

"Als Gruppe kann man sich was aufbauen"

Can, locker gebundene Lederschuhe, blonde Strubbelfrisur, hat in Tübingen schon in zwei Wohnprojekten gelebt. So viel Platz wie hier hatte er noch nie. Can hat in einem der alten Schuppen Platz, sich eine Werkstatt einzurichten. Für ihn wird damit ein Traum wahr. Und seine Selbstständigkeit als Zimmermann kann eine neue Dimension erreichen. Er hat Ideen, will aus gesammeltem Astwerk Möbel bauen. Hier hat er Platz dafür. "Ich könnte es mir nicht leisten, ein Haus zu kaufen. Als Gruppe kann man sich was aufbauen." Er lebt zum ersten Mal mit älteren Menschen zusammen. "Die haben viel Erfahrung, das merkt man sonst nicht", sagt er.

Andreas, der Vater des Projekts, ist groß, hat weiße Haare und junge, dunkelbraune Augen. Er strahlt Ruhe aus. Er hat phasenweise alleine auf seinem Einödhof in Oberschwaben gelebt. "Aber das stimmt nicht mehr für mich." Er sucht Gesellschaft und findet sie hier. Wenn er mit jungen Menschen zusammenlebt, hofft er, im Kopf jung zu bleiben. Außerdem sagt er: "Ich kann viel, wenn auch nichts perfekt. Davon würde ich gerne etwas weitergeben."

Mechthild Behren ist seine Partnerin. Sie hat gegen die Idee gekämpft, die Sprudelfabrik zu einer Oldies-WG zu machen. "Ich bereue es, dass noch nicht so viele Kinder da sind, ich empfinde Kinder als so bereichernd." Und: "Man muss eine gewisse Sehnsucht nach gemeinschaftlichem Wohnen haben, wenn man hier leben will." Wer seine Gewürze in der Küche lieber wegschließen will, damit niemand was davon nimmt, sei vermutlich nicht richtig in der WG. "Wir haben eine laissez-faire-Haltung." Ein Mitbewohner sei deshalb auch schon wieder ausgezogen. Die Hausgemeinschaft muss einstimmig für neue Mitbewohner sein, damit sie einziehen dürfen. Das ist bisher eine der wenigen Regeln, die es im Haus gibt. Behren ist gegen eine ideologische Aufladung des Projekts. Sie will keine Verbote, auch keine ideologischen – etwa dass man nur ein bestimmtes Öko-Waschmittel verwenden darf.

Sie findet, dass die Gesellschaft neue Formen des Zusammenlebens braucht. "Kleinfamilien tragen nicht und bald die Hälfte der Ehe werden geschieden. Es gibt viele Trennungskinder, wir kriegen die Dramen ja mit", sagt Behren. Sie und Laurenze arbeiten als Psychotherapeuten. In der WG könne man als Kind lernen, dass es nicht nur die Eltern als Bezugspersonen gibt, als Erwachsener, dass man sich nicht nur auf den eigenen Partner fixieren muss.

"Ich habe mich noch nie so frei gefühlt"

Ute Rohlf ist die älteste Mitbewohnerin, sie ist 70 Jahre alt. Sie hat ihre Mietwohnung verlassen und ist mit ihrer Partnerin in Eyach eingezogen, obwohl sie sich nicht sicher war, was für ein Leben sie dort eigentlich erwartet. Ein Jahr später sagt sie: "Ich habe immer in Miete gewohnt, aber habe mich noch nie so frei gefühlt wie hier." Alles um sie herum sei viel lebendiger, sei freut sich über die Begegnungen im Alltag und über interessante Gespräche. Sie ist in Rente. Künftig will sie den Platz im Haus nutzen, um zu malen und Specksteinfiguren machen. Dreimal pro Woche meditiert sie zusammen mit anderen Hausbewohnern.

Bis Anfang der 90er-Jahre lief der Betrieb in der Sprudelfabrik. Hier wurde Kohlensäure abgefüllt bis die Auflagen so hoch waren, dass sich der Betrieb nicht mehr gelohnt hat. Alte Postkarten zeigen, wie das Gebäude früher aussah: Mit Fachwerk und der Aufschrift "EYACH-SPRUDEL". Heute sieht man davon nichts mehr, die Fassade sieht neu aus, das Haus ist zitronenfaltergelb und grau angestrichen. "Zusaniert", sagt Laurenze.

Das Haus hat eine nutzbare Fläche von 700 bis 800 Quadratmeter. Im untersten von drei Geschossen befinden sich Keller- und Lagerräume. Im obersten Stock gab es schon immer Wohnungen und Büros, die leicht bewohnbar gemacht werden konnten. Das Herzstück liegt im mittleren Stockwerk: die 300 Quadratmeter große Fabrikhalle, deren Decke nur von ein paar Säulen getragen wird. Sie ist großzügige geschnitten als ein Ballsaal, obwohl Laurenze schon eine Wand eingezogen hat. Er hat die eine Hälfte der grauen Beton-Höhle schon in Wohnraum verwandelt, fast fertig. Das Wohnzimmer ist um die 100 Quadratmeter groß, loftartig. "Ich liebe große Räume, die man verändern und für die Gemeinschaft nutzen kann." Er will später hier vielleicht Filme zeigen, Konzerte veranstalten, Flüchtlinge einladen, Malen, Töpfern. Freiraum und Lebensraum soll es geben.

Wer hier wohnt, zahlt fünf Euro pro Quadratmeter Miete plus Nebenkosten plus eine Gemeinschaftsumlage für die gemeinsam genutzten Flächen. Je mehr Leute einziehen, umso billiger wird diese Umlage. Bisher ist Andreas Laurenze der Vermieter. "Diese Rolle gefällt mir nicht", sagt er. Er plant, die ehemalige Sprudelfabrik ans Miethäusersyndikat zu übergeben, einer kooperativen Beteiligungsgesellschaft, die nicht kommerziell ausgerichtet ist. Die Fabrik würde dann zum Gemeineigentum des Syndikats. Das Syndikat verkauft seine Immobilien nicht weiter, sondern entzieht sie bewusst dem Immobilienmarkt, um bezahlbaren Wohnraum und Raum für Entfaltung zu schaffen.

Mechthild Behren sagt: "Die politische Idee des Syndikats entspricht mir total: Jeder bekommt, was er braucht." Laurenze sagt: "Das wichtigste ist, dass dieses Projekt gesichert ist, dass wir einen Platz haben, den wir gestalten können, wo die existenzielle Not mal ausgeschaltet ist." Er hat nicht vor, das Schmuckstück im Eyachtal wieder zu verkaufen, aber er könne wie jeder andere Mensch nicht garantieren, dass er nicht in finanzielle Schwierigkeiten kommt und doch dazu gezwungen ist.

Dazu soll es nicht kommen. Die WG-Mitbewohner wollen sich für die nächsten Jahre die Gewürze für Küche und Leben teilen.