Szene aus dem „Parsifal“ Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Die Richard-Wagner-Festspiele eröffnen mit einem innovativen „Parsifal“ – mit oder ohne Blickerweiterung.

War das nun so ein Festspielmoment aus der Rubrik: „. . . und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“? Zumindest für die 330 Zuschauer im Festspielhaus mit Augmented-Reality-Brille, kurz AR-Brille? Auf jeden Fall hat die Komponisten-Urenkelin und Festspielchefin Katharina Wagner mit diesem Experiment des Amerikaners Jay Scheib ein Beispiel für Richard Wagners „Kinder, macht Neues!“ geliefert.

Technisch hat das Ganze funktioniert. Als Blickerweiterung, ein paarmal sogar interaktiv. Da konnte dann jeder für sich bestimmen, welche Pflanzen sich wie im Wind bewegen dürfen oder wohin die Taube fliegen soll. Das Auftauchen von Kundry (Elīna Garanča) im Gralsbezirk macht Effekt, der Schwan natürlich auch. Ein Riesenvogel rast auf die Zuschauer zu, und als der Pfeil des reinen Toren den Schwan trifft, spritzt das Blut nur so.

Allerdings flogen die Schwäne und die Pfeile auch dann noch, als die Sache schon erledigt war. Da war die Freude am Motiv wohl einfach zu groß, um sich zu mäßigen. Damit hatte diese Blickerweiterung überhaupt ein Problem. Bei all den ansonsten herumflatternden Insekten war man schnell bei dem geflügelten Wort: Mehr Inhalt, weniger Kunst (sprich: Bildschirmschoner-Gewusel).

Ein Happy End?

Im dritten Aufzug lässt Jay Scheib eine Plastiktüte durch den Raum treiben und als optisches Leitmotiv mit der Taube konkurrieren. Vielleicht ist es ja die aus der Schlussszene des US-Film-Hits „American Beauty“? Nach all den (eher dilettantischen) Avataren, Schädel- und Skelettteilen, roten Blutkörperchen, Schlangen und diversen Blüten (vor allem Lilien) lassen die Granatäpfel, die gleichsam explodieren, die Handgranaten, die genau das nicht tun, Maschinenpistolen, Batterien und ähnliche „Errungenschaften“ der Zivilisation, deren zweite Natur Müll ist, durchaus eine Art Interpretation oder Anliegen erahnen. Was über das meist statische, von Mimi Lien (Bühne) und Meentje Nielsen (Kostüme) vor allem knallbunt in Szene gesetzte Bühnenarrangement hinausgeht.

Den Gral selbst als blauen (Kobalt-)Kristall, unter dem geheimnisvoll schwebenden Riesenrund aus Neonleuchten, lässt Parsifal (Andreas Schager) am Ende zersplittern. Dass Parsifal und Kundry in einer dystopischen Landschaft am Ende aufeinander zugehen und vielleicht eine gemeinsame Zukunft haben könnten, und auch, dass Gurnemanz (Georg Zeppenfeld) seine vom Regisseur dazu erfundene Freundin in den Armen hält, ist als Happy End in der dystopischen Welt dieses Schlussbildes aber doch eher fraglich. Die großen Chancen mit dem Zaubergarten oder dem Wurf des (hier verbogenen) Speeres am Ende des zweiten Aktes schaffen es nicht in ein Wow-Erlebnis. Dass es das Festspielhaus selbst ist, das mit dem Untergang Klingsors (Jordan Shanahan) zu Bruch geht, ist eher ein Kalauer. Richtig ärgerlich ist die AR-Brille aber in dem Moment, als die Baumstämme in der Brillenwirklichkeit Elīna Garanča und Andreas Schager in der großen Kundry-verführt-Parsifal-Szene verdecken. Spätestens da ist man ohne AR-Brille viel besser bedient.

Sternstunde des Wagnergesangs

Bei dieser Sternstunde des Wagnergesangs lohnt es sich nämlich, auch zu sehen, wie die beiden das in eine berührende Gestaltung umsetzen. Nicht nur dieses Großduett gelingt ihnen phänomenal. Garanča sowieso, aber auch Schager bändigt seine Kraft durch Gestaltungswillen, bietet sogar leise Töne. Wenn Umbesetzungen – ursprünglich hätte Ekaterina Semenchuk die Kundry geben sollen – zu solchen Resultaten führen – nur zu! Georg Zeppenfeld hält als Gurnemanz in Referenzqualität wieder seinen Meisterkurs in Textverständlichkeit. Auch sonst durchweg Festspielniveau: Derek Welton als Amfortas, Tobias Kehrer als Titurel, Jordan Shanahan als Klingsor. Dazu sämtliche Gralsritter, Knappen und Zaubermädchen. Alle handverlesen, mit dem Ehrgeiz, ihre Partien wahrnehmbar zu profilieren. Auch der von Eberhard Friedrich auf den Punkt einstudierte Chor: ein vokaler Hochgenuss.

Bleibt der Graben, für den Wagner ja seinen „Parsifal“ maßgeschneidert hat. Über das szenische Experiment kann man streiten (oder auch nicht), über das Debüt des Dirigenten Pablo Heras-Casado aber nicht. Mit 1.37 für den ersten Aufzug recht zügig, doch ohne dass es je gehetzt wirkt, transparent und gradlinig, mit den Protagonisten atmend. Auch wenn er zulangt, wird es nie Lärm, sondern bleibt Musik. Besser kann man sich ein Hügeldebüt kaum denken! Auch so kann „Parsifal“ klingen. Dann hält er auch optische Experimente aus. Das Premierenpublikum sieht das genauso.

Info

Parsifal
Elina Garanca wird die Kundry noch am 30. Juli und 12. August spielen. Die Vorstellungen am 15., 19., 23. und 27. August übernimmt Ekaterina Gubanova.

Ring
 Als Nächstes werden die beiden ersten Teile der Ring-Inszenierung von Valentin Schwarz zu sehen sein, die im letzten Jahr ziemlich kritisch aufgenommen wurden. Man darf gespannt sein, ob Schwarz spürbar etwas geändert hat.

Tannhäuser
 Dann folgt der Hit des aktuellen Spielplans: Tobias Kratzers mittlerweile zum Kultstück avancierter „Tannhäuser“ – jetzt mit Natalie Stutzmann am Pult.