Sina und Marcel Hildmann sind Journalisten, Influencer, Ernährungsberater und Tierretter. In einem kleinen Schwarzwalddorf eröffnen sie demnächst ihren Gnadenhof – mit veganer Vesperstube für Wanderer.
Dass das Gebäude fast 500 Jahre auf dem Buckel hat, sieht man erst auf den zweiten Blick. Außen: uriges Fachwerk, dunkelgrüne Fensterläden. Innen: niedrige Decken, schiefe Balken. An den Wänden im Flur finden sich noch die alten, mit Kirschmotiven verzierten Borten. Die Zimmer sind leer geräumt. Hier entsteht etwas Neues. In ein paar Wochen soll es so weit sein. Sina und Marcel Hildmann wollen in eines der ältesten Gebäude von Ottenhöfen im Schwarzwälder Achertal wieder eine Vesperstube integrieren. Mit einem Unterschied zu früher: Gulaschsuppe, Wurstsalat und Eintopf sind künftig vegan.
Samstagvormittag. Sina Hildmann, Leopardenleggings, mehrere Gesichtspiercings, trägt ihren Sohn spazieren. Ihr Mann steht ein paar Meter vom Fachwerkhaus entfernt und erzählt, dass er noch nie so viel gearbeitet habe wie in den vergangenen Monaten. Aus dem 14 Hektar großen Grundstück, das er mit seiner Frau erworben hat, wird ein Lebenshof. Ein Zuhause für gerettete Tiere. Und gleichzeitig ein Ort für Menschen, die Zeit in der Natur verbringen wollen.
Ihre Köpfe seien voller Ideen, sagt das junge Ehepaar. Ein Spielplatz soll gebaut werden, ein Naturkindergarten aufs Gelände ziehen. Es sollen Weiden umzäunt und Ställe erweitert werden. Eins der Gebäude wird jetzt zur WG für Mitarbeiter und freiwillige Helfer umgebaut. Und wenn die Vesperstube erst mal fertig ist, soll als nächstes Projekt ein Tattoostudio im Nebenraum folgen. Die Hildmanns, beide 32, haben ein Faible für Tattoos. Tierporträts zieren Sinas Arm. Ein Katzenkopf reicht bis auf den Handrücken.
Der schönste Ort der Welt
Sie ist im Schwarzwald groß geworden und vor zwölf Jahren mit ihrem Mann zurückgekommen. Mittlerweile haben die beiden zwei Kinder. Vor zwei Jahren hat die Familie eine halbe Autostunde von Ottenhöfen entfernt ein Haus gekauft. Dass sie nun auch diesen Hof gefunden haben, werten sie als absoluten Glücksfall.
Marcel Hildmann sagt, das sei hier für ihn der schönste Ort der Welt. Sanfte grüne Täler. Bei gutem Wetter Blick bis zu den Vogesen. Ein großer Teich, an dessen Ufer Enten und Gänse schnattern. Weiter hinten plätschert der Furschenbach. In der Nähe ruht die Benz-Mühle, Baujahr 1860. In der Ferne sieht man Wanderer. Der Mühlenweg führt über das Gelände der Hildmanns.
Am 1. Mai wird der Lebenshof offiziell eröffnet – inklusive Vesperstube. Dass der Wurstsalat künftig vegan ist, darüber wird im Dorf schon geschwätzt. „Zu Fasnacht wurde das eine oder andere Witzchen über uns gemacht“, erzählt Marcel Hildmann. „Das ist okay.“ Er hofft, dass sie die Berührungsängste nach und nach abbauen können. „Wer sich nicht traut zu probieren, kann sich auch ein Vesper mitbringen.“
Weil der Hof nur mitsamt Inventar zu erwerben war, veranstalten die Hildmanns immer wieder Flohmärkte. Zwischen allerlei Krimskrams finden sich alte Tontöpfe, Bilderrahmen, Küchenutensilien. „Jeder bezahlt, was er möchte“, steht auf einem Schild. Doch manche Besucher sind nicht wegen des Flohmarkts hier, sie sind neugierig auf das Paar, das sie aus dem Internet kennen. Sina hat auf Instagram fast 80 000 Follower.
Einen Platz zu schaffen für gerettete Tiere sei immer ihr gemeinsamer Traum gewesen, sagt Sina Hildmann. „Ich dachte, mit 50 vielleicht. Wenn wir beruflich etwas erreicht haben und unsere Kinder groß sind.“ Doch die Zeit war offenbar schon früher reif. „Tiere erden mich“, sagt sie. „Ich finde es schlimm, wie mit ihnen umgegangen wird. Das macht mich schon mein Leben lang fertig. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, das Leben von wenigstens einer Handvoll Tiere besser zu machen.“
Diesen Traum träumt das Paar nicht allein. „Wir bekommen viele Nachrichten: ,Ich habe ein großes Haus und möchte einen Gnadenhof gründen. Wie mach ich das am besten?‘“ Marcel Hildmann sagt, es tue ihm leid, manchen die Illusion rauben zu müssen. „Man kann sich nicht einfach ein Haus kaufen mit einer großen Wiese dran und 70 Schweine halten.“ Es brauche viele amtliche Genehmigungen. Auch sie seien in mancherlei Hinsicht blauäugig in das Abenteuer gestartet. „Es gibt in Deutschland für alles Gesetze und Ämter. Da muss man sich erst rantasten.“ Vor allem müsse man sicherstellen, die Tiere auch versorgen zu können.
Fast täglich gehen Hilferufe ein
Auf dem Benzmühlenhof wurden früher schon Tiere gehalten. Die Schweinedame Miss Piggy haben sie von dem Vorbesitzer übernommen. Eigentlich hätte sie im November geschlachtet werden sollen, das blieb ihr erspart. Nun soll die Sau eine Artgenossin an ihre Seite bekommen. Auch die Ziegen und Gänse, die bereits auf dem Hof gelebt haben, durften natürlich bleiben. Gerade sind die Hildmanns dabei, eine gemeinnützige Stiftung zu gründen. „Der Lebenshof soll dann dieser Stiftung gehören – über unsere Lebzeit hinaus. In der Satzung wird festgeschrieben, dass der Hof für immer dem Tierschutz dienen soll.“
Noch ist die Anzahl der tierischen Bewohner überschaubar. Sina und Marcel Hildmann können sich vorstellen, Rinder aufzunehmen, Schafe, Esel, noch mehr Ziegen. Schon jetzt gehen fast täglich Hilferufe ein. Beiden ist wichtig, realistisch zu bleiben: „Letztlich ist so ein Lebenshof ein idealistisches Ziel. Man kann ja nie alle Tiere retten. Sonst platzt nach einer Woche alles aus den Nähten.“ Man wolle ein artgerechtes und bestmögliches Leben für die Tiere. Sina Hildmann würde gerne auch noch eine Wildtierauffangstation integrieren. Für Waschbären, für Wildschweine und für Eichhörnchen. Sehr viele Wünsche und Pläne.
Ohne finanzielle Reserven wäre all das nicht möglich. Zwar soll sich der Hof langfristig selbst tragen, ihre Berufe geben Sina und Marcel Hildmann aber nicht auf. Beide haben in Karlsruhe Journalismus studiert. Er hat mehrere Jahre in der Onlineredaktion beim SWR gearbeitet. Sie war Produktmanagerin in einem veganen Onlineshop, bevor sie sich zur Ernährungsberaterin, Heilpraktikerin und Therapeutin ausbilden ließ.
Eine Zeit lang coachte sie Menschen mit Essstörungen. Sina Hildmann litt selbst jahrelang an Bulimie. Vor zehn Jahren hat sie begonnen, darüber zu sprechen. Ihr Youtube-Kanal „Mut im Bauch“ wuchs und wuchs. Inzwischen haben sich die Themen gewandelt. „Irgendwann war alles gesagt, das Interesse an meiner Person aber immer noch da.“ Als sie mit der ersten Tochter schwanger wurde, sprach sie dann über ehrliche Elternschaft und vegane Ernährung. „Wir führen ein Leben, das viele sich wünschen. Alles sieht im Internet immer so wunderbar aus.“ Ihr sei aber wichtig, das wahre Leben abzubilden. „Auch ich habe blöde Momente und bin nicht immer die ausgeglichene Mutter. Ich muss auf meine psychische Gesundheit achten.“ Auf Instagram sieht man sie beim Frühsport, beim Meditieren, in der Küche. Sie können von den Werbeeinnahmen als Influencer leben, sagen die Hildmanns. Geld verdienen sie auch als Vertriebspartner eines Staubsaugerherstellers.
Sie war früher Tierrechtsaktivistin
Seit mehr als zehn Jahren leben die beiden überwiegend vegan aus ethischen Gründen. Als Tierrechtsaktivisten wollen sie sich aber nicht verstanden wissen. Vor allem Marcel Hildmann kann sich damit nicht identifizieren: „Wir gehen nicht mit einem Protestplakat ‚Tönnies, hör auf zu arbeiten!‘ auf die Straße. Das führt meiner Meinung nach nicht zum Ziel.“ Vorleben statt missionieren, lautet ihre Devise. Weil sie die Eier ihrer Hühner essen, mussten sie unlängst einen Shitstorm über sich ergehen lassen. Viele Veganer und die Betreiber eines anderen Lebenshofs prangerten das an.
Sina Hildmann war mal als Tierrechtlerin aktiv. Im Alter von zehn Jahren hörte sie auf, Fleisch zu essen. Mit 19 wurde sie Veganerin. Sie nennt das ihre „extreme Phase“. Damals habe sie versucht, mit dem erhobenen Zeigefinger Leute auf das Leid der Tiere aufmerksam zu machen. „Ich bin nicht stolz drauf, heute ist mein Ansatz ein ganz anderer.“
Während der Hof-Flohmarkt in vollem Gange ist, kommen zwei neue Bewohner an. Zwei Hündinnen aus einem rumänischen Tierheim. Die eine blind, die andere abgemagert und krank. „Wir wissen nicht, ob sie noch zwei Monate oder zwei Jahre leben“, sagt Marcel Hildmann. „Wir machen es ihnen jedenfalls so schön wie möglich.“