Noch 1948 sind in der Straße, wo die Familie Stockinger wohnt, die Trümmer vom Beschuss zu erkennen. Foto: Archiv Deuble

Verheerender Beschuss des kleinen Wenden jährt sich zum 70. Mal. Bruder lässt Freund nicht alleine.

Ebhausen-Wenden - "Hier kein Soldat" – Mit diesen Worten rettet eine junge Polin am 16. April 1945 in einem Keller eines Bauernhauses im kleinen Wenden das Leben des kleinen Gottlieb Stockinger. Fast 50 Jahre später treffen sie sich wieder. Und es fließen Tränen.

Gut 200 Menschen leben in diesen letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges im kleinen Wenden. Darunter auch einige Fremdarbeiter. Etwa bei Familie Stockinger, deren Bauernhaus am Ortsrand in Richtung Wart steht. Eine 17-jährige Polin, ein Holländer und ein Ukrainer kümmern sich darum, dass der Hof in Abwesenheit des Hausherrn weiter läuft – und um die zwei kleinen Söhne der Stockingers: Gottlieb mit seinen fünf Jahren und den zweieinhalbjährigen Hermann. Lange ist der Krieg gerade für die Kinder weit weg. "Es war ein milder Winter", erinnert sich Gottlieb Stockinger heute noch. "Die Kartoffeln waren sogar schon im Feld."

Doch spätestens Mitte April ist diese ländliche Idylle endgültig vorbei. Eine deutsche Feldküche macht für kurze Zeit Station in dem kleinen Dorf. Dann kommt der 15. April, ein Sonntag. Das Geräusch von vielen Explosionen ist im Dorf zu hören, Jagdbomber ziehen ihre Kreise. Der Volkssturm wird aufgerufen, kehrt aber wenige Stunden später wieder zurück. Das benachbarte Wart entschließt, sich mittels einer weißen Fahne den herannahenden französischen Truppen zu ergeben. Deutsche Truppen ziehen sich Richtung Wenden zurück, tränken dort ihre Pferde und warnen die Dorfbewohner. "Morgen sind die Franzosen da", erzählen sie und warnen, dass die Franzosen angeblich die Familien erschießen, die deutsche Soldaten verstecken.

Der folgende Montag, es ist der 16. April 1945 wird den Wendenern als einer der schlimmsten Tage seiner Geschichte in Erinnerung bleiben. In den Morgenstunden errichtet das Rote Kreuz einen Verbandsplatz im Dorf, in das deutsche Truppen strömen, darunter auch mit pferdebespannten Panzerabwehrgeschützen. Gegen Mittag ertönt der Ruf: "Die Franzosen kommen!" Von Wart her kommend setzen sie fliehenden deutschen Truppen nach. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Was in der Folge wann passiert, darüber sind die Zeugen nicht immer einer Meinung.

Ganz in der Nähe des Ortes wird ein deutscher Soldat verwundet. Er bringt sich auf den Hof der Familie Stockinger in Sicherheit. Dort helfen ihm die Bewohner, ziehen ihm Zivilkleidung an, entsorgen die Uniform in der Güllegrube und verstecken den Mann im Mostkeller. Dorthin bringt der holländische Fremdarbeiter auch die beiden kleinen Stockinger-Jungen in Sicherheit.

Doch die verbliebene Familie Stockinger und ihre Fremdarbeiter bleiben dort nicht lange unentdeckt. Französische Soldaten dringen auf der Suche nach dem verwundeten Deutschen in das Haus ein. "Wenig später öffnen sie die Tür zum Keller und entdecken uns auf dem Sofa", erzählt Gottfried Stockinger. Der im Mostfass nur ein paar Meter daneben versteckte deutsche Soldat muss um sein Leben fürchten. "Wo ist der deutsche Soldat?", fragen die Franzosen. In diesem Moment, so erinnert sich Gottfried Stockinger genau, steht die 17-jährige Polin auf und antwortet den Soldaten mit dem Brustton der Überzeugung: "Kein Soldat hier!" Damit rettet sie nicht nur dem versteckten Landser sondern wohl der ganzen Familie das Leben. Denn die Franzosen glauben ihr und ziehen ab.

Dann beschießt die deutsche Stellung die Franzosen, trifft einen aus dem Elsass stammenden Soldaten, der bereits die ersten Häuser erreicht hat. Eines davon ist das der Familie Stockinger. Der Verwundete verschanzt sich im Hauseingang. Die Reaktion der Franzosen auf diese Attacke bleibt nicht aus. Mindestens drei Panzer beginnen den Ort mit Brandgranaten zu beschießen. Gut eine halbe Stunde dauert das Inferno – und es fordert keine Opfer. Wie viel Glück dabei ist, dass kein Mensch dabei ums Leben kommt, zeigt die Geschichte der Mutter von Lydia Hartmann. Die hat an diesem Montagmorgen wenig Lust aufzustehen, bleibt lange im Bett, kann sich schließlich aufraffen, steht auf und geht nach unten, um Most zu machen. Nur kurz nachdem die Frau das Zimmer verlassen hat, schlägt eine Granate ins Haus ein: "Die hat den Ofen und ihr Bett verrissen, ist durch das Haus durch und ins Nachbarhaus eingeschlagen", erinnert sich Lydia Hartmann.

Menschen sterben keine, aber eine ganze Reihe Häuser werden zerstört, gehen in Flammen auf – neun Häuser, darunter das große Gasthaus Krone und 13 Scheunen. Wasser zum Löschen gibt es praktisch keines im Dorf, also hilft man sich mit Gülle.

Als die Franzosen später ins Dorf eindringen, stellt sich ihnen Bauer Johannes Gauß entgegen, fordert von ihnen, mit dem Beschuss aufzuhören, die Deutschen seien fort. Kurzerhand nehmen die Franzosen Gauß und seinen Bruder Georg als Geiseln. Sie lassen sie vor den Panzern her durchs Dorf marschieren. Hätte jemand auf die Franzosen geschossen, die beiden Gauß-Brüder wären getötet worden. Doch es bleibt alles ruhig.

Doch der Schrecken ist nicht vorbei. Nordafrikanische Soldaten besetzten das Dorf. Ihnen eilt ein übler Ruf voraus. In anderen Orten haben sie Frauen vergewaltigt. Die Mädchen im Ort haben Angst, verstecken sich in Scheunen, so auch Lydia Hartmann. "Eines Nachts wollten sie in die Scheune eindringen", erinnert sie sich. Sie schaffen es nicht. Lassen von diesen Mädchen ab. "Dafür haben sie andere vergewaltigt", wie Lydia Hartmann zögernd verrät. Wen haben sie vergewaltigt? Wie viele? Solche Fragen stoßen bei ihr auf eine Mauer des Schweigens.

Diese Tage halten für das junge Mädchen noch ein bitteres Erlebnis bereit. Ihr Bruder Adolf ist 17 und als Soldat mit seinem Freund Fritz Hertter aus Wart auf Heimaturlaub, als die Franzosen einmarschieren. Adolf gelingt es, nicht verhaftet zu werden. Doch als sein Freund Fritz sich stellen will, trifft er eine folgenschwere Entscheidung. Er will Fritz nicht alleine in Gefangenschaft gehen lassen. Drei Jahre lang bleiben die beiden Freunde in Kriegsgefangenschaft. Als sie zurückkehren, ist das Dorf noch immer nicht ganz aufgebaut. Das dauert noch bis 1950.

42 Jahre später liegt ein Brief im Briefkasten der Familie Stockinger in Wenden. Die Polin, die damals mit 17 die Familie im Mostkeller gerettet hat, meldet sich – wegen der Anerkennung als Fremdarbeiterin. Der Kontakt intensiviert sich. "Meine Mutter hat ihr oft geschrieben", erinnert sich Gottlieb Stockinger.

Dann kommt eines Tages die Einladung. Die Stockingers fahren nach Polen – mit Gottlieb am Steuer. Um 21.30 Uhr kommen sie an. Die Polin erwartet sie schon, steht vor ihrem Haus. Als sie aufeinander zugehen, sagt die Frau nur "Du Gottlieb" – und dann fließen bei allen die Freudentränen. Nach 48 Jahren hat sich irgendwo in Polen ein Kreis geschlossen.