Trotz seiner 83 Jahre kein bisschen leise: In seinem Vortrag in Dornstetten führte Heiner Geißler eine scharfe Klinge mit hohem Unterhaltungswert. Fotos: Eber-hardt Foto: Schwarzwälder-Bote

Heiner Geißler fordert bei Dornstetter Buchwochen eine neue Aufklärung / Plädoyer für globale Menschlichkeit

Von Tina Eberhardt

Dornstetten. "Wage zu denken", hieß 1784 der Leitspruch der Aufklärung in Europa. Eigentlich dürfte man in einer soliden Demokratie annehmen, dass die gedankliche Freiheit seit Immanuel Kant in stabile Bahnen gekommen ist. Weit gefehlt. Die soziale Frage ist zurück auf dem Stand des Frühkapitalismus – sagt Heiner Geißler.

"Er war einer der Politiker, denen man immer glauben konnte und noch immer glauben kann", hob Bürgermeister Bernhard Haas in seiner Eingangsrede auf Heiner Geißler an, als er diesen bei den Dornstetter Buchwochen im voll besetzten Bürgersaal begrüßte. Vielleicht deshalb, weil sich der altgediente Politiker Unangepasstheit und Wertschätzung der Ethik bewahrt hat wie wenige andere. Eigentlich war Geißler gekommen, um sein Buch "Sapere aude – Warum wir eine neue Aufklärung brauchen", vorzustellen. Das Druckwerk war aber bestenfalls Requisit und Sprungbrett zu einer umfassenden politphilosophischen Betrachtung der Welt, die spannend und höchst unterhaltsam war. Dabei mutete Geißler seinen Zuhörern einiges zu.

In seinem Buch hat der Philosoph und Jurist seine Gedankengänge in wissenschaftlicher Sauberkeit geordnet und so dem gemeinen Leser in verdaulichen Einheiten nahegebracht. Anders sieht die Welt aus, wenn dieser große Denker seinem Geistesapparat in ungebremster Live-Übertragung freien Raum lässt. In einem Zug ging’s von Jesus, dem Sozialrevoluzzer, zu Kant, dem Politphilosoph. Von den unterdrückerischen Praktiken von Kirche und Islam zu verbrecherischen Systemen in Politik und Wirtschaft. Und am Schluss blieb von der ach so informierten und demokratischen Mediengesellschaft nach Geißlers intellektueller Filetierung nicht mehr allzu viel übrig. Früher standen die Menschen in der Unterdrückung des feudalistischen Absolutismus, postulierte der Politiker, heute leiden sie unter dem Absolutismus der Ökonomie, des Kapitalismus und der Weltreli- gionen.

Seine revolutionären Thesen hatte Geißler zwar nicht an die Tür der Martinskirche geschlagen, sondern im tiefen Lesesessel des Bürgersaals vorgetragen. Auf die Zehen trat er aber auch von dort der kompletten Elite aus Politik, Klerus und Finanzwelt. Und die Zuhörer folgten den immensen Denk- und Argumentationstempo des 83-Jährigen ehrfürchtig wie Studenten im Hörsaal, als Geißler mit erhobenem Zeigefinger, viel Humor und messerscharfem Verstand Entwicklungen und Hintergründe im Diskurs auseinander klaubte.

Die geistige Größe des Autors nötigte Ehrfurcht ab, beeindruckend war aber die bürgernah anmutende Engagiertheit, der aufrichtig wirkende Einsatz für eine globale Menschlichkeit, die Geißler in seinem Vortrag so überzeugend rüberzubringen vermochte. Denn im Grunde geht es ihm vor allem um eines: "Wir brauchen Entscheidungen mit den Bürgern, und nicht gegen die Bürger." Damit diese sich angemessen einbringen könnten, bedürfe es des Willens zur Information und Mitbestimmung. Wie die neue Aufklärung dann ihren Weg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft finden kann, hat man in Dornstetten zumindest in der Theorie schon mal gelernt.