Tino Schatz hat seine Familiengeschichte erforscht und publiziert. Foto: Schatz Foto: Schwarzwälder Bote

Interview: Die wechselhafte und zum Teil tragische Geschichte einer Familie / 1941 bis 1944 und 1817

Dietingen-Rotenzimmern. Tino Schatz wohnt und lebt in Trier und unterrichtet als Professor für Baustoffkunde und Holzbau an der dortigen Hochschule. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts lebten seine Vorfahren in Rotenzimmern. Spannend schildert er in seinem Buch "Rotenzimmern, Neu-Freudental" das Leben seiner Familie über zehn Generationen: in Rotenzimmern, die Auswanderung nach Russland, das weitere Schicksal und die Heimkehr. Im Interview erläutert der 61-Jährige seine Beweggründe zu diesem Buch und die Geschichte der Russlanddeutschen.

Was hat Sie motiviert, die Spuren Ihrer Ahnen zu verfolgen?

Ich wurde in Norddeutschland geboren und bin dort aufgewachsen. Aber beide Eltern waren keine Norddeutschen. Die Mutter ein Flüchtling aus Ostpreußen, der Vater ein Russlanddeutscher, geboren in der Ukraine.

Irgendwann beginnt man sich, die Frage nach seiner eigentlichen Herkunft zu stellen. Insbesondere reizte mich das Phänomen Russlanddeutscher. Woher kamen diese Schatzens, bevor sie in Russland heimisch wurden? Dazu fand ich nirgendwo einen Hinweis, zumal die Familie völlig zerrissen war.

Tatsächlich lebte zunächst nur mein Vater in Deutschland, seine Mutter, die Geschwister und alle anderen Verwandten waren irgendwo in Russland. Größtenteils verschleppt nach Sibirien, weit entfernt jedenfalls von ihrer Heimat am Schwarzen Meer.

Wie aufwendig und wie zeitintensiv war die Recherche?

Wenn man so will, hat es 50 Jahre gedauert. Über viele Jahre hatte ich keine Möglichkeit gesehen, wie man sich die nötigen Informationen beschaffen könnte. Im Grunde habe ich erst durch das Internet entscheidende Schritte nach vorne machen können. Eine deutschrussische Organisation, die sehr viel in Richtung Ahnenforschung unternommen hat, hat mir sehr geholfen. Den entscheidenden Anstoß lieferte der Nachdruck einer Volkszählung im Geburtsort meines Vaters (Neu-Freudental) aus dem Jahr 1858. Damit begann meine eigentliche Ahnenforschung.

Ich musste zum einen klären, ob jemand von den 1858 aufgeführten Schatzens mein Vorfahr war und – wenn ja – woher er stammte. Das war eine recht spannende und intensive Geschichte. Tatsächlich gelang es mir nach rund einem Vierteljahr, mit Hilfe diverser Altakten, des Ortssippenbuchs "Leidringen und Rotenzimmern", Abfragen in Archiven und Museen die Kette meiner Familie Schatz bis zum Jahr 1650 zurückzuverfolgen.

Das nächste halbe Jahr verbrachte ich mit dem Schreiben des Buches, wobei der Schwerpunkt meiner Arbeit vor allem in der Recherche der historischen Zusammenhänge gelegen hatte. Insbesondere die Zeit von 1917 bis 1944 erforderte eine sehr intensive Literaturrecherche.

Welche Zeitspanne hat Sie besonders berührt?

Mich persönlich zwei Epochen: die transnistrische Phase von 1941 bis 1944 und die Zeit der Auswanderung meiner Familie aus Württemberg um das Jahr 1817.

Die Zeit der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg deshalb, weil ich mir vorher darüber keinerlei Gedanken gemacht hatte. Ich wusste nur, dass es den Deutschen in Russland nach den Jahrzehnten des stalinistischen Terrors endlich wieder besser ging. Wovon ich nichts wusste, war das Ausmaß, wie die Schwarzmeerdeutschen in ihrer Naivität für die Zwecke der NS-Ideologie missbraucht wurden. Das hat mich sehr betroffen gemacht.

Sehr berührt hat mich auch, dass möglicherweise der Beginn des ganzen Auswanderungsabenteuers im Jahr 1817 mit einem fürchterlichen Unglück einherging. Von der Auswandererfamilie Martin Schatz mit Frau und neun Kindern, die in der Ortsgeschichte Rotenzimmerns explizit als erste Auswanderer erwähnt wurden und damals immerhin rund fünf Prozent der Dorfbevölkerung ausmachten, ist möglicherweise nur der älteste Sohn Jakob Schatz in der Ukraine angekommen. Ich habe keinerlei Spuren der anderen finden können.

Wenn ich mir heute vorstelle, wie diese arme Weber-Familie mit Sack und Pack ihre Heimat verlässt, voller Hoffnung und Gottvertrauen auf eine bessere Zukunft, und dann überlebt womöglich nur der damals 15-jährige Sohn, dann ist das für mich unvorstellbar grausig.

Ich kann vielleicht noch ergänzen, dass mich die Fakten stärker berührt haben, von denen ich vor meiner Recherche nichts gewusst hatte. Beispielsweise war mir natürlich die Verschleppung meins Großvaters 1937 aus den Erzählungen meines Vaters bekannt. Was ich nicht wusste, war, dass auch der Bruder abgeholt und wenig später erschossen wurde. So dass mein Vater 1937/38 sowohl seinen Vater als auch seinen Onkel verloren hatte. Das ist etwas, was einen heute fassungslos machen kann.

Mit der Zersplitterung meiner Familie nach 1945 bin ich aufgewachsen und habe es als etwas quasi "Natürliches" abgespeichert. Durch die Recherche ist mir aber erstmals das ganze persönliche Unglück nicht nur meiner Familie, sondern all dieser Russlanddeutschen deutlich geworden. Auch das hat mich sehr berührt.

Wie nah fühlt man sich nach so einer intensiven Suche seinen Wurzeln und seiner Familiengeschichte?

Das Wissen über die eigenen Wurzeln war genau das, was ich gesucht hatte. Jetzt weiß ich, woher meine Familie kommt. Auf einmal sehe ich, dass die Schatzens vor mir immer Dörfler gewesen sind, da gelebt haben, wo ihre Väter geboren wurden, in zwei Dörfern in 300 Jahren. Es war kein reicher Ahnherr dabei, alles einfache, fleißige Leute. Das gibt einem schon eine gewisse Fundamentierung.

Im Frühsommer 2017 war ich in Rotenzimmern und habe mir zum ersten Mal das Dorf angesehen. Das hat mich sehr bewegt. Genau 200 Jahre vorher, 1817, hatten meine Vorfahren das Dorf verlassen und jetzt wanderte ich durch diesen Ort, der in seinem Zentrum noch fast genauso aussieht, wie er wohl 200 Jahre zuvor ausgesehen haben mag. Auf dem Friedhof lagen Nachfahren der Schatzens. Es war ein schöner sonniger Abend, am nächsten Tag noch ein Gespräch und eine kleine Führung mit dem Ortsvorsteher. Alles in allem mein emotionales "Highlight" im vergangenen Jahr.

Welche Zeitspanne liegt in der Regel zwischen Auswanderung und Rückkehr?

Die Auswanderung nach Russland erfolgte im Wesentlichen zwischen 1763 und 1862. Am wichtigsten war wohl die Zeit von 1763 bis etwa 1820. Meine Familie wanderte 1817 aus. Nach 1945 gab es keine deutschen Siedlungsgebiete mehr. Die deutsche Bevölkerung wurde in entlegene Gebiete deportiert, und dann setzte eine Durchmischung mit der russischen Bevölkerung ein.

Zuvor waren die Deutschen in Russland mehr oder weniger unter sich geblieben. Viele der Deutschstämmigen sind nach 1990 als Russlanddeutsche in die Bundesrepublik gekommen. So auch zahlreiche meiner Verwandten, von deren Existenz ich zum Teil gar nichts wusste.

Wann kam ihr Vater nach Deutschland zurück?

Als die Nazis 1941 große Teile der Sowjetunion besetzt hatten, wurden die dort lebenden Deutschen zu sogenannten Volksdeutschen erklärt und die Männer natürlich in die deutsche Wehrmacht oder die Waffen-SS eingereiht. Mein Vater wurde mit 18 Jahren im Jahr 1944 als Soldat zur Wehrmacht eingezogen und nach der Grundausbildung in Oberitalien eingesetzt. Dort geriet er zunächst in amerikanische Gefangenschaft, wurde dann aber den Engländern übergeben und verbrachte seine Kriegsgefangenenzeit in Nordafrika.

Nach Ende der Gefangenschaft war er ein Heimatloser und blieb bis 1954 in Libyen als britischer Zivilangestellter. Nachdem er meine Mutter kennengelernt hatte, zog er nach Deutschland.

War es für Ihre Familie ein Weg in die Fremde oder in die Heimat zurück? Fühlt man sich als Deutscher oder als Russe, oder besteht eine Zerrissenheit der Mentalitäten?

Tatsächlich kann ich zu diesen Fragen aus meiner Erfahrung wenig beitragen. Wenn ich für meinen Vater antworten sollte, würde er sich geradezu angegriffen fühlen, wenn man ihn als Russen bezeichnete. Für ihn war die Sache ganz klar: Er war ein Deutscher aus Russland. Er konnte auch überhaupt kein Russisch sprechen.

Ehrlich gesagt, habe ich das selber nie so richtig geglaubt, aber meine Recherche hat mir eines gezeigt. Es waren tatsächlich nahezu rein deutsche Dörfer, die sich da von etwa 1800 bis 1940 gehalten hatten. In meinem Fall fast ausnahmslos württembergische Schwaben. In dieser Weise hatte ich auch den Begriff Russlanddeutscher verinnerlicht.

Was unsere heutigen Russlanddeutschen anbelangt, also die, die nach 1990 nach Deutschland gekommen sind, ist es tatsächlich so, dass hier verschiedene Effekte Einfluss genommen haben. Erstens die zwangsweise Auflösung der deutschen Siedlungen und Familienverbände in der Sowjetunion nach 1945, zweitens die Unterdrückung des Deutschtums und die Zwangsassimilierung im Laufe von fast 50 Jahren und drittens die natürliche Vermischung mit der russischen Bevölkerung in den Generationen nach 1945.

Aus meiner Sicht sind die Spätaussiedler der 1990er Jahre daher andere Russlanddeutsche als die bis 1945. Aber ich habe zu wenig Kontakt zu ihnen, um sagen zu können, wie sie selber ihrer Situation sehen.

Innerhalb meiner eigenen Familie hat es nach 1990 nicht die große Vereinigung gegeben, sondern jeder ist für sich geblieben. Allerdings hat auf einer ganz persönlichen Ebene meine Buch-Recherche zu neuen Kontakten und zu einer neuen Offenheit geführt und meine Wahrnehmung der modernen Russlanddeutschen verändert. Ich fühle mich ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes – verwandt.   Die Fragen stellte Anja Schmidt