Interview
Giona A. Nazzaro wurde kurzfristig zum neuen Künstlerischen Leiter des Filmfestivals in Locarno ernannt und trat den Job offiziell erst mit Jahresbeginn an. Im Interview verrät er, was er an dieser Herausforderung spannend findet – und ob er Angst davor hat, dass das Kino stirbt.
Locarno - Giona A. Nazzaro zeigt zur Eröffnung einen Film des Streamingdienstes Netflix – und möchte das Festival auch sonst ein wenig tunen. Wir sprachen mit dem überwiegend in Rom lebenden Nazarro, wenige Stunden bevor er am Mittwoch erstmals das Festival am Lago Maggiore eröffnete.
Herr Nazzaro, Sie wurden recht kurzfristig zum neuen Künstlerischen Leiter des Festivals in Locarno ernannt und traten den Job offiziell erst mit Jahresbeginn an. Wie stressig war es, sich in so kurzer Zeit einzuarbeiten?
Ich habe von Anfang an mit sehr großer Begeisterung in meinem neuen Job gearbeitet. Der einzige Stress war eigentlich die Unsicherheit der derzeitigen Situation.
Sie meinen die Pandemie?
Ja, ich will das Wort schon gar nicht mehr benutzen. Zu arbeiten, ohne zu wissen, was das Endresultat sein wird, war schon ein wenig anstrengend. Denn wir haben uns nur auf ein Szenario vorbereitet: ein physisch stattfindendes Festival, bei dem alle Kinosäle offen und internationale Gäste anwesend sind. Aber wie Sie sich vorstellen können, ist das natürlich nicht nur eine Entscheidung des Festivals. Als ich letzten Oktober ernannt wurde, hat das noch ziemlich düster ausgesehen, die Situation hat sich jede Woche geändert. Doch es ist ja gut ausgegangen.
Was macht für Sie, aus filmischer Sicht, den Kern des Festivals in Locarno aus?
Locarno ist meiner Meinung nach immer ein sehr anspruchsvolles Festival gewesen, wo man sich trotzdem immer mit dem sogenannten Entertainment-Film auseinanderzusetzen wusste. Als ich das erste Mal hier war, habe ich zwei Filme auf der Piazza Grande gesehen: „Quer durch den Olivenhain“ von Abbas Kiarostami und Jan de Bonts „Speed“. Das fand ich cool.
Sind Sie Ihren Job angetreten mit dem Wunsch, dieser Tradition treu zu bleiben, oder haben Sie Veränderungen vor?
Ich bin der Überzeugung, dass nicht repariert werden muss, was nicht kaputt ist. Die Filme sind sowieso immer anders. Ich programmiere seit mehr als 20 Jahren Festivals und halte es für einen Fehler, wenn man ausschließlich nach dem eigenen Geschmack auswählt. Viel wichtiger finde ich es immer, auch mit meinen blinden Flecken zu arbeiten. Wenn ich selber nicht mehr genau weiß, wo es hingeht, finde ich das interessant. Dann kann ich sowohl mich selber als auch das Publikum noch überraschen. Den Wettbewerb nur mit ganz anspruchsvollen, radikalen und stundenlangen Schwarz-Weiß-Dramen zu füllen wäre so einfach wie uninteressant. Lieber versuche ich, auch mal Elemente ins Programm einzufügen, die man vielleicht normalerweise nicht bei einem Festival finden würde. Ganz leicht ein paar Dinge zu verschieben, also ein gewisses Feintuning, habe ich in diesem Sinne schon vor.
Ihre Vorgängerin, die Französin Lili Hinstin, galt einigen in Locarno als Fremdkörper. Hilft es Ihnen, in Zürich geboren zu sein, Italienisch zu sprechen und mit Locarno sehr vertraut zu sein?
Das hat damit nichts zu tun, denke ich. Olivier Père zum Beispiel ist auch Franzose und kam als Künstlerischer Leiter hier supergut an. Sprache, Herkunft oder Geschlecht haben nichts damit zu tun, ob man in diesem Job hier erfolgreich ist.
Als Eröffnungsfilm wählten Sie den Netflix-Film „Beckett“. Ist das ein Seitenhieb gegen Cannes, wo man sich weigert, mit Netflix zusammenzuarbeiten?
Nein, mich interessiert es nicht, anderen Leuten zu sagen, was sie in dieser Hinsicht tun sollen. Für mich sind all die Streamingdienste längst nicht mehr die Ursache eines Problems. Es geht nur um die Frage, wie man Filme weiter auswerten will – und da gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Für mich ist der Kinosaal immer noch der erste und beste Weg, einen Film zu erleben. Auch bei Netflix entscheidet man sich ja immer wieder dafür, einige ihrer Filme ins Kino zu bringen. Doch sie sind in meinen Augen auch nur ein neuer Player unter vielen. In dieser Hinsicht bin ich wirklich Agnostiker.
Haben Sie Angst vor dem Tod des Kinos?
Für mich ist der Kinosaal der schönste Ort der Welt. Ich könnte dort mein ganzes Leben verbringen. Und Kino ist, auch wenn Godard da vielleicht widersprechen würde, eine Sprache, die nicht sterben wird. Kino, das sind zwei Bilder, die man nebeneinanderstellt, und am Ende kommt etwas anderes dabei heraus. Das wird sich nie ändern, selbst wenn man es anders auswertet, produziert, verkauft oder konsumiert. Sollte das Kino aber tatsächlich doch gestorben sein, dann ist es auf jeden Fall ein wunderbarer Cadavre Exquis. Oder ein wunderbarer Zombie.
Das deutsche Kino war sonst in Locarno sehr präsent, wovon in diesem Jahr keine Rede sein kann. Ist das eine Ansage?
Keine Sorge, wir haben sehr sorgfältig deutsche Filme gesichtet. Aber so leid es mir tut, wir haben nur einen gefunden, der für uns in Betracht kam. Das ist Sabrina Sarabis „Niemand ist bei den Kälbern“, der im Wettbewerb Cineasti del presente läuft. Die Hauptrolle spielt Saskia Rosendahl, was mich besonders freut, denn die wurde ja 2012 in Locarno in dem Film „Lore“ quasi entdeckt. Außerdem sind ja andere tolle Deutsche im Programm vertreten.
Abhängig vom Film
Kritiker
Giona A. Nazzaro, geboren 1965 als Sohn italienischer Eltern in Zürich, arbeitete lange Jahre als Filmkritiker in Italien und ist Verfasser oder Herausgeber von Büchern über Regisseure wie Spike Lee, Gus van Sant oder John Woo sowie das Actionkino Hongkongs.
Programmierer
Als Kurator und Programmierer arbeitete er bereits für Filmfestivals in Venedig, Nyon, Rom, Turin und Rotterdam sowie Locarno, wo er im vergangenen Herbst nach dem frühzeitigen Abgang der Französin Lili Hinstin, die den Posten erst 2019 angetreten hatte, zum neuen Künstlerischen Leiter ernannt wurde.